Beyoncé, Harry Styles, Kanye WestVerlierer und Gewinner des Popjahres 2022

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ARCHIV - 14.03.2021, USA, Los Angeles: Sänger Harry Styles im Presseraum bei der Verleihung der 63. Grammy Awards im Convention Center. (zu dpa: «Harry Styles wird Thema an Texas State University») Foto: Jordan Strauss/Invision/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Darling des Jahres: Harry Styles

Alle liebten Harry Styles und Taylor Swift, alle schämten sich für Kanye West. Aber der aufregendste Popstar 2022 kommt aus Barcelona. 

Für Menschen, denen das ablaufende Jahr noch nicht deprimierend genug erscheint, hat die GfK Entertainment Deutschlands meistverkaufte Tonträger ermittelt. Liebstes Album unserer Mitmenschen war 2022 Rammsteins „Zeit“, liebster Song „Layla“ von – ich habe körperliche Probleme, diese Namen zu tippen – DJ Robin & Schürze. So lautet die bittere Wahrheit über populäre Musik aus Deutschland. Immerhin half uns die Sexismus-Debatte anlässlich des mallorquinischen Saufgesangs über das Sommerloch hinweg.

Andere Länder haben schönere Popstars. Nur eine Fähre von Malle entfernt liegt Barcelona, die Stadt, die uns mit Rosalía die am kühnsten vorpreschende Sängerin des Jahres schenkte: Keine Bestenliste kommt ohne ihr drittes Album „Motomami“ aus, auf dem Flamenco und Reggaeton, Experiment und Chartspop zusammenfinden, als wären sie immer schon füreinander bestimmt gewesen. Schauen Sie sich unbedingt ihr halbstündiges, eigens fürs Smartphone-Format eingerichtete Konzert an (Ältere finden es auch auf Youtube).

Der Einfluss lateinamerikanischer und karibischer Musik auf die Popmusik könnte derzeit kaum größer sein. Weltweit meistgestreamter Künstler des Jahres war der puerto-ricanische Reggaetonsänger Bad Bunny (der bereits vergangenes Jahr ein hübsches Duett mit Rosalía aufgenommen hat).

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Wer liebte nicht Beyoncés „Renaissance“?

Wie schön, dass es noch Konsens gibt. Jedenfalls ist die Welt der Musikinteressierten dieser Tage weitaus weniger zerstritten als die durchschnittliche Kommentarspalte. Wer liebte nicht „Renaissance“, Beyoncés Umarmung LGBTQ-gesteuerter Dancefloor-Historie, ein Album, das auch ein halbes Jahr nach Veröffentlichung mit jedem Wiederhören neue Reichtümer enthüllt? Wer möchte sich nicht Harry Styles, Teenieschwarm der Generation Achtsamkeit, zum Knuddeln nach Hause nehmen?

Und wer wollte Taylor Swift, die mit „Midnights“ nach ihrer Blockhütten-Phase zurück zum Pop gefunden hat, den Titel als einflussreichste Songwriterin der vergangenen zehn Jahre streitig machen? Als Swift Tickets für ihre erste Tour seit 2017 verkaufen wollte, brachen in den USA die Server zusammen. Wer nur die Superstars sehen will, braucht auch weiterhin eine hohe Frustrationstoleranz, die Karten sind heiß begehrt, die Preise nähern sich teilweise durchschnittlichen Monatsgehältern.

Genesis gab im März als erste postpandemische – wenn man so will – Veranstaltung in der Lanxess-Arena ein würdiges Abschiedskonzert. Dann ging es Knall auf Fall: Dua Lipa, Billie Eilish, Harry Styles, Kendrick Lamar, The Cure: Alles ausverkauft. Läuft prima, besser als vorher. Möchte man meinen. Doch abseits des Pop-Olymp herrscht das heulende Elend. Leere Clubs, zerknirschte Absagen, hinfällige Business-Pläne. Und der ungute Verdacht, dass es sich hier nicht um die letzten Ausläufer einer Ausnahmesituation handelt, sondern um die neue Normalität: Mit Streaming verdienen bekanntlich nur die größten Acts relevante Summen, alle anderen mussten sich aufs aufreibende Dauertouren verlegen und nach dem Auftritt noch am Merch-Stand Autogramme geben.

Das funktioniert nun nicht mehr, stattdessen richtet sich die Nachfrage nach den Gesetzen der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie: In den sozialen Medien wird ausgehandelt, von welchen Shows man unbedingt ein Selfie posten muss. Alle anderen – und darunter sind viele einheimische Acts – fallen hinüber.

Die Sprunghaftigkeit des Netzes zeitigt auch kuriose Effekte, wie etwa das zweite Leben von Kate Bushs Single „Running Up That Hill“, die es 1985 nur auf Platz 30 der US-Charts geschafft hatte, dieses Jahr jedoch bis zur dritten Position kletterte. Das alles dank ihres prominenten Einsatzes in der vierten Staffel von „Stranger Things“. Andererseits: Die beliebteste TV-Show der Welt, ein wunderbarer Song, es sind schon seltsamere Dinge passiert.

Etwa die endgültige Wandlung des Kanye West zum Hitler-preisenden Neonazi. Ye, wie er inzwischen genannt werden will, befindet sich bekanntlich schon einige Zeit auf geistiger und kreativer Talfahrt, aber er hatte sich zuvor lange auf dem Gipfel gehalten: Zwischen 2003 und 2013 hatte er den weitesten Blick im Popgeschehen. Freilich, um Rammsteins Song „Zeit“ zu zitieren: „Zukunft kann man nicht beschwören.“ O Ye.

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