Boygenius im Kölner PalladiumDa flog Phoebe Bridgers eine Torte ins Gesicht

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Boygenius live bei Way Out West 2023, Göteborg, Schweden Göteborg, Schweden. 12. August 2023. Die amerikanische Indie-Rock-Band Boygenius gibt ein Live-Konzert während des schwedischen Musikfestivals Way Out West 2023 in Göteborg. Hier sieht man Sänger und Musiker Julien Baker (m) live auf der Bühne mit Phoebe Bridgers (l) und Lucy Dacus (r).

Boygenius, v.l.: Phoebe Bridgers, Julien Baker und Lucy Dacus

Julien Baker, Lucy Dacus und Phoebe Bridgers haben sich als Supergroup Boygenius zusammengetan. So war das erste Konzert in Köln.

„Ich bin 27 und ich weiß nicht, wer ich bin“ hat Phoebe Bridgers im vierten Song des Kölner Boygenius-Konzerts gesungen (in „Emily I’m Sorry“). Jetzt ist sie fast 29, es fehlt nur eine Stunde, die Kolleginnen der Vorband Muna tragen schon mal eine dicke, weiß glasierte Geburtstagstorte auf die Bühne des Palladiums. Ständchen absingen, Kerzen ausblasen. Julien Baker kniet vor Bridgers, Backwerk im Anschlag. Willig hält die junge Jubilarin ihr Gesicht hin, da fliegt die Torte, hinterlässt eine Maske aus Creme und Krümel. Baker und Lucy Dacus, die Dritte im Bunde, sind als nächste dran, anschließend wirft das Trio unter großem Gejohle Kuchenfetzen ins Publikum.

Jetzt könnte man eigentlich nach Hause gehen, verschmiert und glücklich. Aber Boygenius reißen sich noch einmal zusammen, „Ich zaubere Kunststück um Kunststück, und du hörst nicht auf, nach dem Geheimnis zu fragen“, singt Dacus mit ernüchterter Alt-Stimme, Bridgers harmonisiert dazu in den Höhen und Baker lässt trotz fettiger Finger ein Rockgitarrensolo krachen, dessen ungezähmtes Pathos vor Jahrzehnten aus der Mode gekommen ist.

Alle drei Amerikanerinnen sind sie als Singer-Songwriterinnen erfolgreich, alle drei identifizieren sich als queer, und obwohl ihre jeweiligen musikalischen Ansätze gar nicht so viel miteinander gemeinsam haben, wurden sie häufig miteinander verglichen, als wären sie Operndiven, die hinter der Bühne um die Titelrolle kämpfen. Eine Frau zu sein sei aber noch kein Genre, witzelte Bridgers, es gäbe also nicht den geringsten Grund, miteinander zu konkurrieren.

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Im Gegenteil, Bridgers, Baker und Dacus lernten sich über Zufalls-Begegnungen im Tour-Geschäft und lange E-Mail-Korrespondenzen langsam lieben. Wenn ihre gemeinsame Supergroup mehr als die Summe ihrer Teile ist, liegt das nicht an der zusätzlichen Kraftanstrengung musikalischer Platzhirsche wie einst bei Cream – der Name Boygenius macht sich über genau dieses Verhalten lustig –, sondern beweist eher, wie viel mehr möglich ist, wenn einem die Freundinnen den Rücken freihalten.

Das hört man gleich zum Auftakt der Show, wenn die drei Damen im Backstage-Bereich zu „Without You Without Them“ im Satzgesang ihre Stimmen eng aneinanderlegen. „Ich möchte, dass du meine Geschichte hörst“, singen sie, „und ein Teil von ihr bist“. Die Szene wird in verrauschter Qualität auf eine Leinwand übertragen, und als die drei Ausrufezeichen daraufhin die Bühne betreten, brandet Jubel auf, als hätte Harry Styles gerade mit den Hüften gewackelt.

Die Schlange vor dem Palladium zieht sich bis zum Carlswerk hin

Die Halle ist ausverkauft, die Schlange vor dem Palladium zieht sich bis zum Carlswerk hin: Boygenius sind vor allem auch die Supergroup der sogenannten Sad Girl Music; die Palette reicht hier von Tori Amos bis Billie Eilish, aber eigentlich beschreibt das Label nur die hilflose Reaktion von Kritikern, wenn Frauen von ernsten Dingen singen.

Das Trio unterläuft all diese Klischees gekonnt, lässt seine vier Mitmusikerinnen zu Thin Lizzys „The Boys Are Back in Town“ ihre Plätze einnehmen, spielt auch optisch mit Hardrock-Klischees: Stacheldraht umkranzt das Live-Bild der ausgiebig tätowierten Baker. Sie ist denn auch für die Power-Riffs verantwortlich, die das Energieniveau wieder hochtreiben, wenn die Band das Konzert einmal mehr unterbrechen muss, weil jemand im Zuschauerraum ohnmächtig geworden ist. Es ist heiß, es ist schwül, aber Solidarität kennt keine vierte Wand: Die Musik kann warten, bis ausreichend Wasser verteilt worden ist.

In ihren Songs verzichten sie jedoch auf simples Empowerment – „Not Strong Enough“ heißt das letzte Lied vorm Zugabenteil. Die Dinge verhalten sich nun mal kompliziert und Baker, Dacus und Bridgers haben die Songwriting-Fähigkeiten, sie auch in all ihrer Komplexität zu erfassen. Als sie sich für „Letter to an Old Poet“ an den Bühnenrand setzt, bitte Bridgers die Menge, ihre Smartphones für einen Moment wegzustecken. Sie fühle sich zerbrechlich, wenn sie dieses Lied singe, ohne ihre beiden Freundinnen hätte sie sich wohl nie getraut, es zu schreiben. „Du sagtest“ spricht Bridgers darin einen Ex-Partner an, „meine Musik sei sanft. Vielleicht bin ich einfach nur erschöpft.“

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