Ausstellung über die 1920erAls Frauen endlich Männer sein durften und Männer Maschinen

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Frans Masereels „La ville“ (Die Stadt) aus dem Jahr 1925 zeigt einen Arbeiter vor Stadtkulisse

Frans Masereels „La ville“ (Die Stadt) aus dem Jahr 1925

Die Bundeskunsthalle in Bonn feiert die 1920er Jahre als lange Geburtsstunde der Moderne. So divers waren Männer und Frauen schon mal vor Hundert Jahren. 

Vielleicht hatte der gute Mann es noch verwinden können, dass die Röcke kürzer und die Sitten lockerer wurden. Aber als sich seine Frau die Locken stutzte, zog er vor Gericht. Schließlich hatte er eine Langhaarige geheiratet und keinen Bubikopf. Beim Richter stieß der Kläger mit seiner Auslegung ehelicher Treue auf mehr Verständnis als der Zeitgeist eigentlich erlaubte. Aber auch über dieses Fehlurteil rasten die 1920er Jahre schließlich hinweg.

Agnieszka Lulinska erzählt diese Anekdote inmitten der Galerie neuer Männer und Frauen, die sie für ihre monumentale Ausstellung über die „1920er!“ in der Bonner Bundeskunsthalle zusammengetragen hat. Hier hängen tatsächlich viele Kurzhaarfrisuren, gerne kombiniert mit Zigarette, lässiger Haltung und ernstem, herausforderndem Blick. Es war das Jahrzehnt der Frauen, sagt Lulinska, nach dem Weltkrieg wurden sie in Betrieben und Büros gebraucht. Der Männermangel bescherte ihnen nicht nur beinahe überall in Europa das Wahlrecht, sondern auch ungeahnte Freiheiten. Besser lohnabhängig als Anhängsel eines Ehemanns, das gilt im Grunde heute noch.

Aleksander Krims schuf die perfekte Melange aus Maschinenästhetik und Dandytum

Die abgehängten Männer tragen es in der Bonner Ausstellung mit stählerner Fassung. Teilweise blieb ihnen als Kriegskrüppel und Maschinenmensch auch gar nichts anderes übrig, wie ein Werbefilm über Ferdinand Sauerbruchs Arm-Hand-Prothese eindrucksvoll beweist. Aber auch die leiblich unversehrten Männer mutierten zu Gliederpuppen, geometrischen Schnittmengen oder jenem legendären Goldhelmkopf, den Rudolf Belling 1923 aus mechanischen Einzelteilen schmiedete. Aleksander Krims schuf dazu die perfekte Melange aus Maschinenästhetik und Dandytum. Sein schöner Jüngling im Frack blickt so leer, dass weibliche Terminatoren weiche Knie bekommen.

Aber natürlich sind das nur Ausschnitte, ästhetische Probebohrungen in ein Jahrzehnt, das wie keine andere Epoche für die neue Unübersichtlichkeit der Moderne steht. Der Weltkrieg hatte alte Mächte und Gewissheiten hinweggefegt, Menschen und Nationen mussten sich neu erfinden, es schlug die Stunde der Massendemokratie. Im Grunde glich ganz Europa damals einem Experiment mit offenem Ausgang, so vielfältig wie in den Metropolen dieser Zeit sollte die Welt lange nicht mehr sein. Lulinska hat ihrer Ausstellung den Zusatz „Im Kaleidoskop der Moderne“ gegeben. Man kann die 1920er Jahre schütteln, wie man will, es kommt immer etwas Aufregendes dabei heraus.

In der Bundeskunsthalle starten diese Rasenden Zwanziger mit einem zigarrenförmigen Sportwagen, den Oldtimer zu nennen einer Beleidigung gleichkäme. Mit Vollgas hat man allerdings wenig von dieser verwinkelten, immer wieder überraschenden Schau. Natürlich gibt es die Ikonen der Zeit, ein Modell der Maschinenfrau aus Fritz Langs „Metropolis“, den aus Stahlrohren geformten Bauhaus-„Freischwinger“ oder eine wandfüllende Skizze von Oskar Schlemmers Menschenpuppenhaus. Man hat sie schon oft gesehen, aber achtlos vorbeigehen kann man an ihnen auch dieses Mal nicht.

Mehr Zeit brauchen die geschüttelten Kombinationen, die Lulinska großzügig über den Ausstellungsparcours verteilt. In den Kabinetten zu Architektur und Lebensgefühl der Großstadt finden sich die bekannten stürzenden Linien der neusachlichen Fotografie, El Lissitzkys utopische Entwürfe des Neuen Bauens und die babylonisch aufgetürmten Wolkenkratzer von Fortunato Depero; aber auch Carl Grossbergs buntstiftspitze Nüchternheit und Reinhold Nägeles geradezu liebliche Nachtgemälde von Weissenhofsiedlung und Hohenzollernbrücke. Der Blick weitet sich, reicht über das etwas deutschtümelnde Berlin-Klischee hinaus (die 1920er Jahre waren auch eine Epoche der Internationalität) und kriecht schließlich mit wohligem Schaudern die manhattanesken Architekturtapeten hinauf.

Man kann die 1920er Jahre schütteln, wie man will, es kommt immer etwas Aufregendes dabei heraus

Immer wieder kombiniert Lulinska Berühmtes mit Unbekanntem und schöpft dazu mit Vorliebe aus dem Reservoir der osteuropäischen Moderne. Wer kennt hierzulande schon die lettische „Mata Hari“, die von Aleksandra Belcova porträtierte Schriftstellerin und Mäzenin Austra Ozolina-Krauze, oder die polnische, ausschließlich unter kontrolliertem Drogenkonsum produzierende Bilderfabrik des Porträtisten Stanislaw Ignacy Witkiewicz? Auch in der Abteilung für „Flexible Identitäten“ wurde die Kuratorin abseits der üblichen Lokalitäten fündig. In Prag ließ sich der kleine Unterschied zwischen Mann und Frau offenbar so wenig wie in Berlin oder Paris bestimmen, wobei auch hier nichts über Claude Cahuns queere Maskeraden geht.

Dem Prinzip durchlässiger Grenzen folgt die Ausstellung so konsequent wie das in ihr vorgeführte Jahrzehnt. Hoch- und Populärkultur, Kunst und Design, Alltags- und Kulturgeschichte sind oft nur durch einen Seitenblick voneinander getrennt, wenn sie nicht ohnehin, wie etwa die Kostümentwürfe Sonia Delaunays, ein und dasselbe sind. Der Kunst der 1920er Jahre war scheinbar nichts Menschliches fremd, und sei es die Sensation eines Rugbyspiels, das Max Beckmann 1929 zu einem historischen Schlachtgetümmel stilisierte. Angesichts dieser Modernität sticht der „positive“ Rassismus, mit dem Maler und Zeichner vor Hundert Jahren die Jazzwelt feierten, besonders unangenehm heraus.

Vielleicht ist das der einzige Vorwurf, den man dieser Ausstellung machen kann – dass man nicht versteht, warum all diese wunderbaren Utopien, Träume und Zerstreuungen so furchtbar endeten. Wo sind die Reaktionäre, wo die Bilder der Gegenreformation und wo die Stellen, an denen beispielsweise die braun gefärbte Moderne einer Leni Riefenstahl andocken konnte? Auf der Höhe ihrer Zeit waren schließlich auch die Nazis. Aber der Spaß war mit ihnen vorbei.


„1920er! Im Kaleidoskop der Moderne“, Bundeskunsthalle, Museumsmeile, Bonn, bis 30. Juli. Der Katalog kostet 35 Euro.

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