Carmina Burana in der PhilharmonieSo findet eine mittelalterliche Liedersammlung in die Gegenwart

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Zwei Herren zerren an der Protagonistin herum, sie trägt ein Korsett und hat Dreadlocks, ein weiß geschminktes Gesicht. Zu ihren Füßen viele flehende Damen.

Carmina Burana von „La Fura dels Baus“

Noch bis zum 23. Juli tritt die katalanische Theatergruppe „La Fura dels Baus“ mit Carl Orffs „Carmina Burana“ in der Kölner Philharmonie auf. 

Wenn sich das Rad des Schicksals dreht, ist eigentlich nichts und niemand sicher vor Veränderung, so zumindest heißt es in Carl Orffs „O Fortuna“. Es ist das Highlight seiner szenischen Kantate „Carmina Burana“, die jeder zumindest auszugsweise mal gehört haben dürfte, sei es nun in einer Konzerthalle oder bei „How I Met Your Mother“ auf dem heimischen Sofa.

Zum Ende des 34. Kölner Sommerfestival erklingt eine Variante der „Carmina Burana“ in der Kölner Philharmonie. Die katalanische Theatergruppe „La Fura dels Baus“ tritt dort vom 18. bis zum 23. Juli auf und inszeniert die Kantate aufwendig und multimedial.

Carl Orffs„Carmina Burana“ basiert auf der mittelalterlichen Liedersammlung

Die Carmina Burana ist eine Liedersammlung mit Texten aus dem 11. und 12. Jahrhundert, die neben Trink- und Liebeslieder auch moralische und spöttische Gesänge umfasst. Das Werk war lange verschollen, tauchte aber Anfang des 19. Jahrhunderts im Kloster Benediktbeuren auf (daher der Name „Beurer Lieder“). Weltweit bekannt wurde die Carmina Burana aber erst mit Orff, der 1936 sein viel beachtetes Chorwerk daraus machte. Das hat zwar eine klare Dreiteilung (1. Primo vere / Uf dem Anger, 2. In taberna, 3. Cour d'amours / Blanziflor et Helena), die von den Fortuna-Passagen umrahmt ist, aber keine zusammenhängende Handlung.

Mit der Neugestaltung durch die katalanische Theatergruppe unter Leitung von Carlus Padrissa trifft das Stück auf ein weiteres Jahrhundert. Die dreigliedrige Struktur behalten sie (mit Kürzungen) bei, erfinden das Stück aber vor allem durch die Inszenierung neu. Es beginnt mit einem Querflöten-Solo von Inés Fernandez, die auf der Treppe an den Publikumsrängen steht. Auch der Chor verteilt sich bis in die höchsten Ränge, was bei ihrem ersten Einsatz einen ganz wundervollen Klang erzeugt. Anstatt von Notenblättern halten sie hölzerne Kästen mit Taschenlampen, die ihnen direkt ins Gesicht leuchten und sie so aus der abgedunkelten Philharmonie herausstechen lassen. Die Männer sind wie Mitglieder der Band „Kiss“ geschminkt, die Frauen haben ebenfalls weiße Schminke auf dem Gesicht und erinnern an Bunraku-Puppen.

Dann steigen sie zur Bühne herab und stellen sich rechts und links eines großen, halbtransparenten Zylinders aus Stoff auf. In diesem befindet sich das Orchester bestehend aus Klavier, Kontrabass, Pauke und reichlich Schlagwerk. Der Zylinder fungiert auch als Projektionsfläche: Zu Beginn steht dort noch der gesungene Text. Später zeigen sich dort allerlei Animationen, von denen manche beeindrucken – andere sehen eher aus wie Bildschirmschoner aus den späten 90ern, etwa ein Sternenhimmel und ein kartoffelförmiger Mond, der dort verwirrte Bahnen zieht.

Bariton von „La Fura dels Baus“ sorgt in Köln für viele Lacher

Die Inszenierung spielt dabei mit allen Sinnen. Zu frühlingshaften Gesängen und Bildern verteilt sich ein Blumenduft im Raum, und während eines Saufgelages sauen die männlichen Sänger nicht nur die Bühne mit Wasser voll, sondern bespritzen auch die ersten Reihen im Publikum.

Ein Highlight ist ohne Frage der Bariton Lorenzo Moncloa, der mit einer schwarz-roten Robe als Priester und Narr zugleich auftritt. Schon beim Herabsteigen auf die Bühne macht er allerlei Klamauk und zieht einzelne Zuschauer aus ihren Sitzen, die eine Tonfolge nachsingen sollen (einer bekommt dafür viel Applaus). Später klettert Moncloa noch einem Herrn auf der ersten Reihe mehrfach in den Schoß, und steigt dann auf den Nachbarsitz, um eine Dame unter seiner Robe verschwinden zu lassen.

Doch bei aller Spielerei überzeugt Moncloa durch seine Stimme und seinen tollen Ausdruck. Das gilt auch für die Sopranistinnen Hevila Cardeña und Amparo Navarro, die sich die Rolle der Protagonistin (mit auffälligen Dreadlocks) teilen. Auch Virginia Estebans und Rajiv Cerezos Soli beeindrucken, und Angel Martinez Einlage als Huhn, das sich aus einem käfigartigen Kran hoch über der Bühne zu befreien versucht, erntet Szenenapplaus.

„O Fortuna“ erklingt noch bis zum 23. Juli in der Kölner Philharmonie

Dem Publikum dürfte zudem eine Szene im Gedächtnis bleiben, in der die Protagonistin (diesmal gespielt von Raquel Cruz) in einen achtseitigen Pool steigt. Umgeben von jungen Frauen bleibt sie mit einem beklemmenden Ausdruck von künstlichem Frohsinn unnatürlich lange Zeit unter Wasser. Später reichen die Damen ihr Trauben, die sie in ihren Tanz einfügt, das Wasser wird wie durch Jesu Hand zu Wein.

Die Protagonistin im Wasser trägt ein enges bodysuit und rote Pömpel über ihre Brustwarzen. Sie stemmt sich gegen die Scheiben des Wasserbehälters, lächelt dabei sehr gezwungen. Sie ist umgeben von anderen Frauen, die die Scheiben berühren.

Pool-Tänzerin Raquel Cruz in „Carmina Burana“

Beim Finale kommt nochmal der Kran zum Einsatz, lässt die Protagonistin hoch über der Bühne thronen. Sie wird von fleißigen Bühnenarbeitern nach rechts und links geschoben, schwenkt auf und ab, und auf dem Dach des Zylinders dreht sich das rote Rad der Fortuna. Im Mittelalter war das Sinnbild noch ein Appell, sich Gott als Quelle der Beständigkeit zuzuwenden. Der Trost der modernen Fassung liegt im Humor und nicht im Geistlichen, das der unbeständigen und skurrilen Gegenwart hinterherhinkt. Doch letztlich verfolgt einen nach der Show mit Carl Orffs „O Fortuna“ ein Ohrwurm, der immer noch, trotz der parodistischen Verwendungen in der Popkultur, einen geistlichen Schmerz trägt.

Zur Veranstaltung

„Carmina Burana“ von „La Fura dels Baus“, 18. bis zum 23. Juli in der Kölner Philharmonie. Preise variabel nach Datum von 49,90 Euro bis 102,90 Euro, Stehplätze 33,40 Euro. Weitere Infos gibt es hier.

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