Elke Heidenreichs Buch „Altern“ war der meistverkaufte Titel 2024 in Deutschland.
Elke Heidenreich über das Altern„Wir leben in einer Zeit des idiotischen Jugendwahns“

Elke Heidenreich
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Frau Heidenreich, wissen Sie noch, wann Sie zum ersten Mal gedacht haben: Oh, jetzt bin ich alt?
Ganz ehrlich? Nein. Als ich 80 wurde, dachte ich, was für eine Zahl. Aber ich habe mich nicht alt gefühlt. Als mich der Hanser Verlag fragte, ob ich ein Buch über das Alter schreiben möchte, habe ich gesagt, das interessiert mich nicht. Ich will gar nicht so viel über das Alter nachdenken, dann kriege ich vielleicht Angst. Aber dann hat mich das Thema nicht losgelassen.
Vorher haben Sie sich mit dem Altern wenig beschäftigt?
Eigentlich gar nicht. Ich habe immer versucht, vorzusorgen, dass ich genug Freunde habe, dass man sich gegenseitig hilft, dass ich finanziell abgesichert bin. Ich habe das Glück, nicht so krank zu sein, dass ich abhängig bin. Wenn man das alles im Griff hat - Krankheit, Einsamkeit und Armut, ist Alter eine tolle Zeit. Mein tiefstes Grundgefühl ist Dankbarkeit. Dankbarkeit für alles. Deswegen mache ich mir gar nicht so viele Gedanken über das Alter. Es kommt, es ist da.
Mein tiefstes Grundgefühl ist Dankbarkeit. Dankbarkeit für alles. Deswegen mache ich mir gar nicht so viele Gedanken über das Alter.
Hat Ihnen das Älterwerden denn nie Angst gemacht?
Nein, nie. Mir hat Jugend Angst gemacht. 17 zu sein war schlimmer. Ich wusste nicht, wo es hingeht. Ich hatte kein Geld, keine Wohnung, wusste nicht, was ich werden will, war unglücklich verliebt. Da habe ich überlegt, was aus meinem Leben wird. Das fand ich alles so schwierig, belastend und anstrengend. Dagegen ist es doch jetzt richtig schön.
Ich habe gelesen, dass Studien ergeben haben, dass das subjektiv gefühlte Alter beeinflusst, wie man biologisch altert. Glauben Sie an diesen Zusammenhang?
Ja. Ich fühle mich nicht als alte Frau. Ich ziehe keine Hose mit Gummizug an, keine gesunden Schuhe. Wenn ich sagen müsste, wie ich mich fühle, würde ich kühn sagen, irgendetwas zwischen 50 und 60. Nicht jugendlich, nicht jung, nicht knackig, aber auch nicht alt.
Warum fällt es uns als Gesellschaft so schwer, Altern auch als etwas Positives zu sehen und nicht immer nur als etwas Mängelbehaftetes?
Ich weiß es nicht. Wenn man einigermaßen gesund ist, kann man alles noch machen. Ich glaube, dass wir in einer Zeit des idiotischen Jugendwahns leben. Alle wollen jung und knackig sein. Das sehen wir ja auch an der Arbeit der Schönheitschirurgen. Ich würde das niemals in Anspruch nehmen. Jedes Alter hat seine guten und seine schlechten Seiten. Die Tiefs, die ich jetzt im Alter habe, die hatte ich mit 17, mit 30, mit 50 auch schon. Aber die Hochs, die ich jetzt habe, die hatte ich früher nicht.
Welche Hochs sind das?
Dass ich nichts mehr beweisen muss, dass es mir gut geht, dass ich nachmittags schon Wein trinken kann, dass ich am Leben bin in einem demokratischen Land. Mich macht dankbar, dass ich so alt werden durfte. Es ist nicht alles vorbei, wenn man alt ist. Man kann sein Leben genauso weiterführen. Man kann Zeitung lesen, ins Theater oder Konzert gehen. Man kann einfach leben. Der Tod findet uns schon von allein, auf den muss man nicht warten.
Hätten Sie vorher gedacht, dass der Bedarf, positiv aufs Alter zu schauen, so groß ist? „Altern“ war das meistverkaufte Buch des Jahres 2024 in Deutschland.
Das hätte ich nie gedacht. Aber ich glaube, es liegt daran, dass ich sage, lasst euch nicht in die Ecke drängen. Die Welt ist in einem beschissenen Zustand, aber wir Alten sind nicht schuld daran. Meine Generation hat Greenpeace gegründet, Amnesty International, die Grünen, Ärzte ohne Grenzen. Und wir haben uns gegen unsere Nazi-Eltern und Lehrer behauptet. Wir waren eine tolle Generation. Ja, wir hinterlassen auch ungewollt viel Mist. Wir sind sehr viel gereist. Wir haben nicht nachgedacht über den Zustand der Welt. Das tun wir jetzt. Deswegen zieht euch nicht an, dass ihr an allem schuld seid. Geht mit erhobenem Kopf in euren Alltag. So viele Menschen sagen: Das Buch hilft mir, es macht mich glücklich, es macht es mir leichter.
Sie wollen Mut machen?
Ja, ich will sagen: Traut euch! Das Gejammer über das Alter gibt es seit 2000 Jahren. Das ist aber nicht nötig, weil Alter auch gut ist. Julian Green, der so alt geworden ist, hat immer gesagt: Ich habe noch mein Anfangsherz. Ich bin immer noch verliebt. So geht es mir auch. Verliebtsein heißt ja nicht, dass man durch die Betten tobt. Es geht darum, anrührbar zu sein. Es geht um Austausch, Dinge, die einen anregen und einem guttun. Dass einen jemand toll findet und man selbst jemanden toll findet, ist doch schön. Natürlich kann man immer noch verliebt sein. Man kann zärtlich sein, Wein trinken, einen schönen Abend verleben. Und das alles will ich auch. Ich bin doch noch am Leben, verdammt noch mal.
Die Gesellschaft reduziert die Menschen zu sehr aufs Altsein?
Ja, das macht sie. Das machen die Alten, die sich zurückziehen und denken, ich bin nicht mehr an Bord, aber auch selbst. Ich bin durchaus noch an Bord. Ich sage meine Meinung. Ich lege mich auch gerne an. Und das muss auch sein. Ich bin doch eine Demokratin in dieser Welt. Das Wichtige ist, wach und engagiert zu bleiben.
Wie gehen Sie mit Abschieden um, die Teil des Älterwerdens sind?
Jeder Abschied tut auf seine Weise weh. Viele Freunde sind gestorben. Ich habe in letzter Zeit viele Totenreden gehalten. Auf Hans Neuenfels, auf Jürgen Flimm. Das macht etwas mit einem. Meine Generation nimmt Abschied , auch von den Schauspielern und Sängern, die ich geliebt habe. Irgendwann bin ich dann auch dran. Aber wir leben in einem Land, in dem wir nicht mal Schmerzen haben müssen. Für uns wird gesorgt. Was soll ich fürchten? Irgendwann ist es ausgeatmet. Wenn ich sterbe, will ich keine Todesanzeige, keine Nachrufe, keine Feier. Seid nett zu mir, solange ich lebe. Wenn ich tot bin, habe ich nichts davon.
Wird beim Älterwerden mit zweierlei Maß gemessen, wenn es um Männer und Frauen geht?
Aber klar. Männer treten viel selbstbewusster auf. In der Meinung der Öffentlichkeit haben sie graue Schläfen und sind interessant und Frauen sind verblüht und verwelkt. Das ist aber Quatsch. Frauen altern viel besser. Das sieht man, wenn es ans Alleinsein geht im Alter. Wenn ein Partner weg ist, sind die Männer viel schlechter dran. Sie sind viel einsamer, können sich nicht gut versorgen, weil das immer jemand gemacht hat. Und Männer haben nie gelernt, einen großen Freundeskreis aufzubauen. Wir Mädchen haben immer Freundinnen, auf die wir uns verlassen können. Ich habe überhaupt keine Angst vor Einsamkeit.
Sie haben mal gesagt, dass Sie ein Talent zum Glücklichsein haben. Kann man das lernen?
Ich weiß es nicht, vielleicht kann man es lernen. Ich konnte immer gut genießen. Mitten im Schlamassel konnte ich sagen, jetzt ist endlich Ruhe. Jetzt trinke ich mal ein Glas Wein, jetzt bin ich ganz für mich. Man kann lernen, die schönen Dinge rauszufiltern und zuzulassen und die anderen nicht zu nah an sich ranzulassen. Ich war oft sehr unglücklich, aber ich glaube, dass ich ein Talent habe, aus Löchern rauszukommen. Manchmal hat man nicht die Kraft, aber wenn man die Angebote annimmt, nimmt die Kraft wieder zu. Wenn du die Schönheit zulässt, strahlt sie ja auch wieder in dein Leben. Und man darf sich nicht abhängig machen von der Meinung anderer. Es gibt so viele Menschen auf der Welt, die anders denken. Wenn ich mir das immer anziehen würde, wäre ich nicht mehr glücklich.
Gelassenheit ist eine Eigenschaft, von der man sagt, sie komme mit dem Alter. Ist das bei Ihnen so?
Nein, die geht mir völlig ab. Ich fluche beim Autofahren wie ein Rohrspatz. Aber ich ruhe in mir, weil ich das Gefühl habe, ich muss nichts mehr beweisen. Ich muss keine Talkshow mehr machen, ich muss nicht noch einen Bestseller schreiben. Ich muss nichts mehr aufbauen. Ich bin angekommen. Ich kann jetzt eine ruhige Strecke geradeaus gehen.
Sie haben gesagt, Sie beneiden niemanden ums Nichtstun. Ist das ein Problem für manche im Alter, dass ihnen eine Aufgabe fehlt?
Ja, das glaube ich ganz sicher. Allein für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ jede Woche meine Kolumne zu schreiben, fordert mich. Das ist eine kontinuierliche Sache, die mich am Laufen hält. Ich darf nicht schlapp machen. Ich würde jedem raten, so eine kleine Aufgabe zu haben. Bei mir sind das geistige Tätigkeiten, aber man kann bei der Tafel arbeiten oder sich für Obdachlose einsetzen. Ich würde immer irgendetwas tun.
Hadern Sie manchmal, wenn Sie zurückblicken?
Nein, ich denke bei vielen Sachen, das war die falsche Entscheidung. Aber das ist ja genau das im Leben, das man ertragen muss. Eine Entscheidung für etwas ist immer auch eine gegen etwas. Manche waren falsch, die kann ich nicht rückgängig machen. Davon lasse ich mich nicht zerfressen. Man kann das bereuen, man darf auch weinen, aber man muss weiter nach vorne gucken. Sich in der Vergangenheit zu verfranzen, bringt nichts. Und immer nur in die Zukunft zu denken, bringt auch nichts. Ich bin schon sehr für die Gegenwart. Wir leben jetzt – auch und gerade im Alter.
Elke Heidenreich (82) ist Schriftstellerin und Literaturkritikerin für Fernsehen, Radio und Zeitungen. Deutschlandweit bekannt wurde sie als Kabarettistin durch die Verkörperung der Figur „Else Stratmann“. Von 2003 bis 2008 moderierte sie die ZDF-Literatursendung „Lesen!“. Sie ist zudem seit 2012 Mitglied der Kritikerrunde des „Literaturclubs“ im Schweizer Fernsehen. Ihr Buch „Altern“ (Hanser, 112 Seiten, 20 Euro) war das meistverkaufte des Jahres 2024.
Am 27. Mai, 19.30 Uhr, spricht Elke Heidenreich im Neven DuMont Haus, Amsterdamer Straße 192, mit Anne Burgmer unter der Überschrift „Warum müssen wir keine Angst vor dem Altern haben?“ über ihr Buch. und ihr Leben. Tickets für 19 Euro (zzgl. VVK) gibt es bei Köln-Ticket und unter ksta.de/redaktion.