Filmfestspiele in CannesWarum Sandra Hüller jetzt ein Weltstar ist

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27.05.2023, Frankreich, Cannes: Justine Triet (2.v.r), Gewinnerin der Goldenen Palme für «Anatomy of a Fall», Milo Machado Graner (l), Sandra Hüller und Antoine Reinartz (r) posieren für Fotografen während eines Fototermins nach der Preisverleihung bei den 76. internationalen Filmfestspielen in Cannes.

Justine Triet (2.v.r), Gewinnerin der Goldenen Palme für „Anatomy of a Fall“, Milo Machado Graner (l), Sandra Hüller und Antoine Reinartz (r)

Mit Justine Triets Gerichtsdrama „Anatomy of a Fall“ gewinnt in Cannes erst zum dritten Mal das Werk einer Frau. Hauptdarstellerin Sandra Hüller triumphiert auch ohne eigenen Preis.

Man kann auch triumphieren, ohne zu gewinnen. Sandra Hüller, die Hauptdarstellerin beider bestplatzierter Filme, erlebte an diesem Samstagabend wohl den Höhepunkt ihrer Karriere. Ein Star in Cannes seit „Toni Erdmann“, war sie mit ihrer kraftvollen Leinwandpräsenz der Dreh- und Angelpunkt des Ehe- und Gerichtsdramas „Anatomy of a Fall“ der Französin Justine Triet, der dafür als erst dritter Frau in der Festivalgeschichte eine Goldene Palme zugesprochen wurde.

Und in Jonathan Glazers künstlerisch noch radikalerem Auschwitzdrama, „The Zone of Interest“, verleiht Hüller dem amoralischen Mitläufertum als Gattin des Lagerleiters Höss den ultimativen Ausdruck. Ihr steht nun eine Weltkarriere offen, man muss nur die „Washington Post“ aufschlagen: Für ihre Kritikerin ist die Deutsche „die vielleicht größte Gewinnerin des Abends, und sie hat sich in die Oscar-Diskussionen katapultiert.“

Auch wenn der Hauptpreis für eines der stärksten Gerichtsdramen seit Billy Wilders „Zeugin der Anklage“ zuletzt immer wahrscheinlicher geworden war, war die Preisverleihung nicht weniger ein Spektakel. Zur Feier des größten Frauenanteils von immerhin einem Drittel der Regisseur:innen im Wettbewerb hatte man Jane Fonda eingeladen. Lässig erinnerte sich die zwei Jahrzehnte jünger wirkende 85-Jährige an ihren ersten Cannes-Besuch von 1963, nicht ohne zuvor zweimal den Namen einer Kosmetikmarke zu erwähnen, für die sie seit Langem Werbung macht. „Damals gab es noch keine Frauen im Wettbewerb und es wäre uns nie eingefallen, dass daran etwas Falsches war. Wir sind weit gekommen, aber wir müssen noch weit gehen.“

Jane Fonda klemmt überwältigte Justine Triet unter ihren Arm

Bevor Fonda dann eine überwältigte Triet, die zwischendurch sogar ihre Urkunde verloren hatte, wie zu einem Demonstrationszug unter ihren Arm klemmte, hatte diese selbst für Aufregung gesorgt: Ihre Dankesrede nutzte die Regisseurin zu einer Abrechnung mit der französischen Kultur- und Sozialpolitik: „Durch ihre Kommerzialisierung der Kultur unterstützt diese neoliberale Regierung den Prozess, Frankreichs kulturelle Ausnahmestellung zu zerstören.“ Einen solchen Angriff auf die öffentliche Filmförderung sollte hierzulande einmal jemand wagen, wo inzwischen sogar Netflix-Serien mit hohen Summen unterstützt werden.

Der Biss in die fütternde Hand blieb nicht lange unbeantwortet. Frankreichs Kulturministerin Rima Abdul Malak zeigte sich „verblüfft“, ohne das französische Modell der Filmförderung hätte ihr Film nie das Tageslicht gesehen. Auch mit Präsident Macron war Triet ins Gericht gegangen und hatte seine Unterdrückung der Proteste gegen die Rentenreform als schockierend bezeichnet.

Türkische Schauspielerin Merve Dizdar widmet ihren Preis allen Frauen

Auch die Türkin Merve Dizdar, als Hauptdarstellerin in Nuri Bilge Ceylans Drama „About Dry Grasses“ ausgezeichnet, nutzte ihre Dankesrede vor der Präsidentschaftswahl in ihrem Land zu einem Statement, in dem sie ihren Preis allen Frauen widmete, die „dafür kämpfen, die Schwierigkeiten in der Welt zu überwinden und die Hoffnung nicht aufgeben.“ Wie kaum ein zweiter Filmemacher vermag es Ceylan in seinen Filmen, politische Innenansichten in psychologische Kammerspiele einzuweben. Dizdar repräsentiert als kommunistische Lehrerin eine moralische Integrität, die der männliche Anti-Held des Dramas schon lange unter einem gepflegten, aber zugleich erbärmlichen Zynismus begraben hat.

Auch dieser Film gehörte zu den Höhepunkten eines außergewöhnlichen Festivaljahrgangs, der alle Spielarten des Kinos mit einer Leidenschaft umarmte, die Direktor Thierry Frémaux geradezu archetypisch verkörpert. Er eilte von einem Kino zum anderen, nicht nur, um die Premieren zu beehren, sondern auch, um persönliche Einführungen in Klassiker zu geben. Gerne glaubt man ihm, dass er den Rest des Jahres mit dem gleichen Eifer um diese Filme wirbt.

Wim Wenders glänzt eher indirekt

Das deutsche Kino glänzte dabei eher indirekt: Wim Wenders poetischer, ohne heimische Filmförderung in Japan realisierter Film „Perfect Days“ kam beim Darstellerpreis zu Ehren. Japans Filmstar Kôji Yakusho verleiht darin fast ohne Dialog einem Toilettenputzer eine ganz besondere Würde. Dabei ist der Ehrenpreisträger des Frankfurter Nippon-Connection-Festivals von 2017 nicht zuletzt als Synchronsprecher von Animes bekannt.

Aki Kaurismäkis nun mit dem Spezialpreis der Jury geehrte Tragikomödie „Fallen Leaves“ entstand wie die meisten Werke des Filmemachers als Koproduktion mit der Kölner Pandora-Film. Wenn überhaupt an diesem makellosen Film etwas auszusetzen hätte, dann höchstens, dass er den besten Filmen seines Regisseurs wie aus dem Gesicht geschnitten ist.

Eine Perle von einer weiblichen Filmemacherin hatte sich das Festival bis zum letzten Wochenende aufgehoben, leider blieb Alice Rohrwachers betörende Gaunerkomödie „La Chimera“ bei der Preisvergabe unberücksichtigt. In den pastellenen Farben von analogem Kodak-16mm-Film erzählt sie von einem nicht ganz gesellschaftsfähigen jungen Mann, der sich als Grabräuber betätigt. Offenbar mit dem zweiten Gesicht gesegnet, erspürt er Bestattungsorte aus der Römerzeit. In ihrem poetisch-rohen Filmstil kreiert die Filmemacherin ihren eigenen Neo-Neorealismus, hier deutlich inspiriert von Luigi Comencinis legendärer Fernsehverfilmung des „Pinocchio“.

„Das Kino stirbt? Das heißt doch, dass es menschlich ist.“ Unter allen internationalen Filmemacherinnen und Filmemachern, die sich im Dokumentarfilm „Chambre 999“ von Lubna Playoust über die Zukunft des Mediums äußern, wirkt Alice Rohrwacher am leidenschaftlichsten. Die digitale Kultur strebe nach kontrollierten Bildern, wahre Filmkunst sei stets das Gegenteil, sei Poesie. In Glanz und Glamour von Scorsese bis Indiana Jones hat Cannes diese Botschaft auch in diesem Jahr niemals vergessen lassen.

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