„Fuck 2020“Das waren die Songs des Corona-Jahres

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Christine and the Queens (1)

„Leute, ich war traurig “: Die französische Popsängerin Héloïse Letissier, alias Christine and the Queens bei einem Auftritt im November 2019

Christine and the Queens „People, I’ve Been Sad“ Die französische Pop-Chanteuse Héloïse Letissier, alias Christine and the Queens oder auch schlicht Chris, hat diese direkte und doch sehr elegante Depressionsballade – allein dieser anschmeichelnde, an Giorgio Moroders „Take My Breath Away“ erinnernde Synthie-Bass! – bereits im Februar veröffentlicht. Insofern hat sie mit der Pandemie nicht das Geringste zu tun.

Doch spätestens nachdem Chris das Stück drei Monate später in Stephen Colberts Late Night Show sang, allein vorm offenen Fenster ihrer Pariser Wohnung sitzend, wusste jeder, wie es sich anfühlt, einen anderen Menschen und dabei auch sich selbst zu verlieren, oder wenigstens einen Teil seiner Jugend: „You know the feeling, you know the feeling“, haucht Letissier und fasst die ganze Traurigkeit der Welt in einen Song.

„Leute, ich war traurig “: Die französische Popsängerin Héloïse Letissier, alias Christine and the Queens

„Leute, ich war traurig “: Die französische Popsängerin Héloïse Letissier, alias Christine and the Queens

Tocotronic „Hoffnung“

Der (erste) Lockdown war noch keine drei Wochen alt, als die ewige Hamburger Lieblingsband „ein kleines Stück lyrics and music gegen die Vereinzelung“, wie Dirk von Lowtzow singt, herausbrachten. „Hoffnung“ fußt auf dem Zusammenspiel einer bescheidenen Gitarrenfigur mit ausufernden Streichern und will erst einmal nicht mehr bieten, als Trost in schwerer Zeit. Achteinhalb Monate später wirkt der hier angeschlagene elegische Ton fast ein bisschen jammerlappig. Weder von Lowtzow noch sonst jemand musste, „schweigen, bei all der Angst, die mich umgibt“. Die anfängliche Schockstarre ist einer gesunden Genervtheit gewichen.

The Rolling Stones „Living in a Ghost Town“

„Ich gehe nirgendwo hin“, stellt Mick Jagger in „Living in a Ghost Town“ fest, „ich starre nur auf mein Telefon.“ Ein Geist in einer Geisterstadt: Der Lockdown erschien im April noch als großer Gleichmacher, in der es reichen Rockstars nicht anders erging als uns. Das war eine Illusion. Es machte doch einen gewaltigen Unterschied, wie viele Zimmer (und Privatjets) man zur Verfügung hatte. Was bleibt, ist die Verwunderung darüber, dass die (gesichts-)älteste Band der Welt mit diesem dubbig verhallenden Rock-Reggae-Stück die perfekte klangliche Entsprechung für die ineinander verschwimmenden Corona-Tage gefunden hat.

Fiona Apple „Fetch the Bolt Cutters“

„Hol den Bolzenschneider, ich bin schon viel zu lange hier drin“, verlangt Fiona Apple im Titelsong ihres erst fünften Albums in drei Jahrzehnten, und wir Eingesperrten möchten ihr sofort heftig kopfnickend beipflichten.

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Nur ein paar ISS-Astronauten waren wohl besser auf die Quarantäne vorbereitet als Apple, die bereits in den vergangenen fünf Jahren kaum noch ihr Haus in Venice Beach verlassen hatte. Dessen Einrichtungsgegenstände und Bewohner (inklusive einiger Hunde) scheppern auf „Fetch the Bolt Cutters“ wie Tom Waits zu Zeiten von „Swordfishtrombones“: Ungezähmt, widerständig, aber durchaus fröhlich. Die wahre Freiheit, weiß Fiona Apple, wartet nicht vor der Tür, sondern in dir drin.

Charli XCX „Forever“

Anfang April verkündete Charli XCX in einer Zoom-Konferenz mit Fans, dass sie sich selbst die Aufgabe gestellt habe, binnen sechs Wochen und nur mit den Mitteln, die ihr in ihrem Haus in Los Angeles zur Verfügung stehen, ein Album aufzunehmen. „How I’m Feeling Now“ erschien pünktlich am 15. Mai und klang in seiner so sehnsuchtsvollen wie störanfälligen Synthetik tatsächlich wie die absolute Gegenwart.

In den Lyrics zu „Forever“, der ersten Single, beschreibt der britische Do-it-yourself-Popstar nicht, wie in anderen Stücken des Albums, den öden Quarantäne-Alltag – spät aufstehen, fernsehen, Angst haben – sondern beklagt die physische Trennung von ihrem Boyfriend (der sich in New York isolierte) und imaginiert das Ende der Beziehung. „Forever“ war schon draußen, als der so Besungene nach Los Angeles zog, und sich alle Zweifel in glücklicher Virengemeinschaft zerstreuten.

Taylor Swift „The Last Great American Dynasty“

Das Taylor Swift mit „Folklore“ das perfekte Album zur (erzwungenen) neuen Häuslichkeit aufgenommen hat, dürfte sich seit Juli herumgesprochen haben. In „The Last Great American Dynasty“ schöpft die ehemalige Country-Prinzessin ausnahmsweise einmal nicht aus dem eigenen Erfahrungsschatz, sondern erzählt die Geschichte der skandalumwitterten Society-Lady Rebekah Harkness: Die Standard-Oil-Erbin schockierte ihre Nachbarn auf Rhode Island mit wilden Partys und bohemistischen Kunstaktionen in ihrem sogenannten „Holiday House“.

Im letzten Vers outet sich Swift als aktuelle Besitzerin des Anwesens: Als müsste man nur in der richtigen Villa eingesperrt sein, um Songs von der Klasse einer F. Scott Fitzgerald-Kurzgeschichte zu schreiben. In Wirklichkeit bleibt es, Lockdown hin oder her, eine Frage des Talents.

Scooter „FCK 2020“

Was im Oktober jeder dachte, H. P. Baxxter brüllte es durchs Megafon: „Fuck 2020!“ Dazu bollerten wie eh und je die Kirmestechnobeats und tausend tollwütige Elefanten stießen in Vuvuzelas. Andere künstlerische Auseinandersetzungen mit „the worst year ever“ mögen tiefgründiger ausgefallen sein, keine tat so gut wie dieser Song gewordene Fluch der Hannoveraner Grobmechaniker.

Iggy Pop „Dirty Little Virus“

Wahrscheinlich hätte man sich die Suche nach einem Impfstoff sparen können, wäre nur jemand rechtzeitig auf die Idee gekommen Iggy Pop anzuzapfen: Der Mann ist schließlich die personifizierte Unkaputtbarkeit. „Dirty Little Virus“, sein verspäteter, erst vor wenigen Tagen veröffentlichter Beitrag zum pandemischen Songbook, glänzt nicht unbedingt mit lyrischer Raffinesse. „Grandfather’s dead/ got Trump instead“; „can’t have no fun/ can’t touch no one“, na ja.

Dafür stimmt die Punk-Attitüde. Man muss nur erst den Großteil des scheppernd gereimten Textes hinter sich bringen, um zu den klirrenden Trompetenstößen vorzudringen, die mutig gegen die Mauern anblasen, die wir um uns errichtet haben.

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