Geschichte der PressegrafikEin faszinierender Bildband

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Paul Iribe beschäftigt sich 1917 mit dem Ersten Weltkrieg.

Paul Iribe beschäftigt sich 1917 mit dem Ersten Weltkrieg.

Alexander Roobs opulent gestaltete Geschichte der Pressegrafik zwischen 1819 und 1921 ist eine Entdeckung. 

Ein Soldat hält einen Hauptmann in seinen Armen, ohne diese Stütze droht er zu Boden zu stürzen: „Ich bin da, Herr Hauptmann, Sie fallen nicht“, ist die Pressegrafik untertitelt, die der Franzose Paul Iribe 1917 als Kommentar zum Geschehen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs gestaltete. Die Farben Grün und blau beherrschen das Bild, überall scheint es zu knallen. 

Auf einem anderen Bild zeigt Iribe, der mit der Modeschöpferin Coco Chanel liiert war, eine Geisterarmee gefallener Soldaten, die von einem mythischen Führer zu den Waffen gerufen wird: „Ersteht auf von den Toten!“, ruft er ihnen zu. Iribes szenografisches Talent wurde auch von Cecil B. DeMille erkannt, der den Künstler kurz nach Kriegsende nach Hollywood holte. 

Willibald Krain, ein deutscher Künstler, dem Kurt Tucholsky bescheinigte, noch während des Krieges „mutig gegen den Blutstrom geschwommen“ zu sein, bildete 1916 in einer ganz in Braun- und Beige-Töne gehaltenen Grafik gekreuzigte Frauen ab. Seine pazifistische Mappe konnte in dieser Zeit nur in der neutralen Schweiz erscheinen.

Die Pressegrafiken hatten großen Einfluss auf die bildende Kunst

Es sind Entdeckungen wie diese, die den kürzlich erschienen Bildband „History of Press Graphics. 1819–1921“ so reizvoll machen. Dieses beeindruckende Kompendium feiert das goldene Zeitalter des grafischen Journalismus als ebenso eigenständiges wie einzigartiges Genre und verdeutlicht, wie groß der Einfluss dieser Grafiken auf die bildende Kunst war. Ein Beispiel: „Bevor Dekonstruktion und Montage wesentlich für die Bildfindungen der Kubisten wurden, hatten sie sich bereits als wichtige Stilmittel in der Pressegrafik durchgesetzt.“

Heute haben wir abertausende Fotos auf unseren Smartphones gespeichert und wenn irgendwo auf der Welt etwas passiert, sind Bilder von dem Ereignis wenige Sekunden später im Netz zu finden. Doch bevor die Fotografie ihren Siegeszug in der Presse antrat, waren es Grafiken, die den Informationshunger stillten.  

Louis Sabattie: Weltausstellung – Die orientalischen Theaterkünstler begeben sich zum Trocadéro, 1900.

Louis Sabattie: Weltausstellung – Die orientalischen Theaterkünstler begeben sich zum Trocadéro, 1900.

Alexander Roob geht in dem opulent gestalteten Werk auch auf die Anfänge des Bildjournalismus ein, der sich im Europa der frühen Neuzeit mit dem aufkommenden Holzschnitt und Buchdruck entwickelte und während des Dreißigjährigen Krieg eine erste Blütezeit erlebte.

Doch sein Hauptaugenmerk richtet Roob auf die gut 100 Jahre zwischen 1819 und 1921. Neben Werken bekannter Künstler wie Jean Cocteau, Juan Gris und Käthe Kollwitz finden sich in dem Band die Arbeiten der sogenannten „special artists“: berühmte Pressegrafiker wie Thomas Nast, Honoré Daumier und Gustave Doré. Doch auch viele weitgehend vergessenen Kollegen können wiederentdeckt werden.

Als demokratische Kunstform bezeichnet Roob die Pressegrafiken, weil sie nicht für Museen oder die Sammlung einiger Privilegierter gedacht waren, sondern in den öffentlichen Raum wirkten. Man habe sie in die Schublade minderwertiger Eintagsobjekte gesteckt und dort vergessen.

Erschwerend kam nach Roobs Einschätzung hinzu, „dass die Blütezeit der Pressegrafik mit der wenig verarbeiteten Phase des eurozentrischen Imperialismus zusammenfällt“, die von rassistischen und sozialen Stereotypen geprägt gewesen sei. 

Glück und Leid, große Politik und kleine Dramen, Bettler und Könige

Dieser Bildband beweist nun auf eindrucksvolle Weise, welche Schätze in diesem Genre zu finden sind. Sowohl die Art der grafischen Gestaltung als auch die Wahl der Sujets helfen, die Lebens- und Gedankenwelt der Menschen jener Zeit zu verstehen.

Die Vielfalt der Darstellungen macht das Stöbern zu einem Ereignis. Da finden sich Darstellungen aus Modejournalen, die 1830 die Vormittagskombinationen reicher Pariserinnen abbilden, ebenso wie Vorläufer des heutigen Boulevardjournalismus, wenn der Grafiker des „Le Petit Parisien“ bei der Visualisierung eines Hochbahnunglücks in New York von dem zugrundeliegenden Material abweicht, um die Szene dramatischer wirken zu lassen.

Neben zahlreichen politischen Karikaturen muss man mitunter bei der detaillierten Darstellung von Gewalt und Tod schlucken. So entwarf Théophile Steinlen 1902 auf sechs wortlosen Doppelseiten ein Panorama imperialen Schreckens. Er spielt darin auf die Gräuel Belgiens im Kongo an. Menschen mit abgetrennten Händen und Geköpfte liegen auf dem Boden, während sich ein weiß gekleideter Europäer Zigarre rauchend von Schwarzen durch die Szenerie tragen lässt. 

Glück und Leid, große Politik und kleine Dramen, Bettler und Könige. Dieser Band versammelt sie alle und hält auf beinahe jeder Seite eine neue, spannende Entdeckung bereit. 


Alexander Roob lehrte Grafik und Malerei an der Kunsthochschule Hamburg und der Kunstakademie Stuttgart. 2005 hat er das Melton Prior Institut mitbegründet, das sich der Geschichte der Reportagezeichnung und der Druckkultur widmet.

„The History of Press Graphics 1819 -1921“, Taschen Verlag, englisch-deutsch-französische Ausgabe, 604 Seiten, 60 Euro.

Alle Informationen zu dem Bildband finden Sie auf der Homepage des Taschen Verlages.

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