„Glass Onion“-ErfolgWarum Netflix nicht in Dollar, sondern in Streaming-Stunden rechnet

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Die Schauspieler Edward Norton als Miles (l-r), Madelyn Cline als Whiskey und Daniel Craig als Detective Benoit Blanc in einer Szene aus «Glass Onion: A Knives Out Mistery» (undatiert).

Edward Norton, Madelyn Cline und Daniel Craig in „Glass Onion“.

Rund 35 Millionen Haushalte haben Rian Johnsons Krimispiel „Glass Onion“ über die Weihnachtstage angeguckt. Jetzt weiß man, warum Netflix das 469 Millionen Dollar wert war.

Am Tag vor Heiligabend hat Netflix eine seiner bislang aufwendigsten Produktionen veröffentlicht, Rian Johnsons „Glass Onion“. Der Streamingdienst ergänzte den Titel, zum Missvergnügen des Regisseurs, noch um den Zusatz „A Knives Out Mystery“. Auf der einen Seite ärgerte sich Johnson zurecht: Das verrätselte Krimispiel wurde zwar erneut von Daniel Craigs Benoit Blanc aufgelöst, doch eine Fortsetzung des 2019er Überraschungs-Hit „Knives Out“ ist es nicht, sondern einfach ein weiterer Fall für den extravaganten Südstaaten-Detektiv. Man muss nicht „Knives Out“ kennen, um „Glass Onion“ zu genießen, ebenso, wie man sich ohne weitere Vorkenntnisse jeden beliebigen Hercule-Poirot-Roman von Agatha Christie aus dem Regal nehmen kann.

Andererseits basiert Netflix’ Geschäftsmodell nun mal auf seriellem Erzählen. Ganz ähnlich wie ein Hinweis den Ermittler zum nächsten führt, verweist jeder Netflix-Content nur auf den nächsten Inhalt. Nur, dass am Ende dieser Kette keine große Aufklärung steht, sondern die Verlängerung des Netflix-Abos. „Aufwendig“ bezieht sich weniger auf das Budget von „Glass Onion“, das soll sich im Rahmen von 40 Millionen Dollar bewegen, als auf die 469 Millionen Dollar, die Netflix für die Rechte für zwei weitere Benoit-Blanc-Filme gezahlt hat.

Das klingt in etwa so größenwahnsinnig wie „Glass Onions“ Tech-Milliardär (und unbeabsichtigte Elon-Musk-Parodie) Miles Bron, gespielt von Edward Norton. Und macht doch Sinn: Denn Netflix sucht händeringend nach einer Film-Serie, die etwa mit dem Marvel-Universum auf Disney+ konkurrieren kann oder mit dem Star-Trek-Content, der jetzt exklusiv beim Newcomer Paramount+ abzurufen ist.

Familienfreundliche Spektakel zum Spottpreis

Bereits in den 1970ern waren Whodunits wie „Mord im Orient-Express“ (1974) und Glass Onions direktes Vorbild „Sheila“ (1973) die kostengünstigere Alternative zu den damals beliebten Katastrophenfilmen – den Superhelden-Epen ihrer Zeit. Whodunits versammelten ebenso illustre Ensembles aus beliebten Altstars und begehrten Newcomern und boten ebenfalls nur ein klein wenig blutige, im Grunde jedoch familienfreundliche Unterhaltung, aber das zum Spottpreis: Das Budget von „Mord im Orientexpress“ belief sich auf 1,4 Millionen Dollar, „Flammendes Inferno“ aus demselben Jahr kostete exakt das Zehnfache.

Das Netflix-Kalkül scheint aufzugehen: Bereits in den ersten drei Tagen, so die offizielle, nicht unabhängig nachzuprüfende Unternehmens-Verlautbarung, wurde „Glass Onion“ weltweit mehr als 82 Millionen Stunden lang gestreamt. Rund 35 Millionen Haushalte, rechnet Netflix, haben die knifflige Mordgeschichte zwischen dem 23. Dezember und dem ersten Weihnachtstag gesehen.

Nebenbei: Die zahllosen versteckten Hinweise, prominenten Kurzauftritte und satirischen Seitenhiebe sorgen schon dafür, dass viele Abonnenten den Film mindestens zweimal gucken.

Das sind die Zahlen, auf die es ankommt und das ist auch der Grund, warum der Streamingdienst bewusst auf Millionen-Einnahmen verzichtet hat, indem er die Kinoauswertung von „Glass Onion“ auf eine Woche Ende November und wenige Filmtheater begrenzte. Ungleich wertvoller ist es dem Unternehmen, seinem Publikum den Eindruck zu vermitteln, dass die Dinge, die man gesehen haben muss, um mitreden zu können, auf dem heimischen Sofa stattfinden – James Camerons „Avatar“ zum Trotz.

Kinos dienen in diesem Geschäftsmodell einzig noch der Erzeugung von Aufmerksamkeit, die große Leinwand wird zum Schaufenster herabgewürdigt. Die Glaszwiebel des Titels bezeichnete schon im gleichnamigen Beatles-Song etwas, in Benoit Blancs Worten, „das vielschichtig, geheimnisvoll und undurchschaubar erscheint“, dessen Zentrum aber in Wirklichkeit klar auf der Hand lieg. Weshalb der äußerst unterhaltsame Film ständig auf sich selbst als bloßes Spektakel verweist, in dessen hohlem Kern Kunst verfeuert wird.

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