Gürzenich-Konzert in KölnVorsicht vor diesem Bruckner und Mark Andres Hardcore-Avantgarde

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François-Xavier Roth dirigiert im dreiteiligen Anzug mit Krawatte.

François-Xavier Roth, hier in Prag, dirigierte in Köln das Gürzenich-Orchester.

François-Xavier Roth kombinierte in der Kölner Philharmonie Bruckners achte Sinfonie mit der Schallkunst Mark Andres. Vorweihnachtliche Besinnlichkeit klingt anders. 

Zu Beginn ersuchte François-Xavier Roth für das folgende Erstaufführungswerk (in Deutschland) nachdrücklich um Ruhe: Bitte keine Handy- und keine Hörgeräte-Geräusche! Der obligate Konzerthusten war wohl mitgemeint, ohne dass er eigens erwähnt wurde. Was eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist, stellte sich beim jüngsten Gürzenich-Abokonzert in der Kölner Philharmonie freilich in der Tat als besonders notwendig heraus: Die zwischen 2016 und 2022 entstandenen „Vier Echographien“ des (die Kölner Performance persönlich beehrenden) französischen Komponisten Mark Andre bewegen sich oft genug an der Grenze der Wahrnehmbarkeit. Musik am Rand der Stille, philosophisch formuliert: als Anwesenheit ihrer Abwesenheit. Das Programmheft belehrt über die spirituellen Hintergründe dieser Phänomenologie des Verschwindens: die Emmaus-Episode aus dem neuen Testament (das Verschwinden Jesu) und die Experimente mit Klangechos in der Grabeskirche zu Jerusalem.

Die „Vier Echographien“ von Mark Andre geben einige Rätsel aus

Wer diese Musik – oder soll man hier besser sagen: Schallkunst – ohne Vorinformation hört, wird sich diesen Background kaum erschließen können. Er kann sich möglicherweise überhaupt wenig erschließen: In ein Kontinuum des Wehens, Brummens, leisen Rauschens fallen schlagartige auf unterschiedliche Weise erzeugte Klänge und Geräusche. Zweifellos entstehen dabei aparte, ja teils faszinierende Sound-Effekte, an denen Erzeuger wie Klangschläuche, singende Sägen und Nagelgeigen ihren Anteil haben.

Außerordentlich schwierig – und dies zumal nach einmaligem Hören – ist eine wertende Einschätzung des Ganzen. Sie scheitert schon an vergleichsweise trivialen Beobachtungen: Wenn ein Spieler etwa seinen Lasso-mäßig geschwungenen Klangschlauch fahren lässt – ist das Bestandteil der Aufführung oder ein Missgeschick? Und was sagt es dem Hörer, wenn im vierten Stück Spieluhren Fragmente aus Schumanns „Träumerei“ erklingen lassen? Keine Frage: Andre liefert allerhärteste, und das heißt: hermetische und verrätselte Hardcore-Avantgarde, mit der jahreszeitlich angesagten Vorweihnachts-Besinnlichkeit hat das trotz des Bibel-Backgrounds nichts zu tun.

Bei Bruckners achter Sinfonie gibt Roth auch mal den „Anti-Celibidache“

Traditionell-sinfonisch ging es nach der Pause mit Bruckners achter Sinfonie (in der sperrig-ungeglätteten Erstfassung von 1887) weiter – zum Abschluss von Roths auch auf CD gebanntem und insgesamt äußerst erfolgreichem Kölner Bruckner-Zyklus im Vorfeld des Jubiläumsjahres 2024 (200. Geburtstag). Aber Vorsicht, ausweislich seines Dirigats sah Roth keinerlei Anlass, mit der Musik des österreichischen Romantikers das Publikum aus den Fängen der Modernität zu entlassen. Gerade im Licht des ersten Programmteils und in Korrespondenz zu ihm entfaltete sich die bestürzende Fortschrittlichkeit einer Kunst, die etwa im ersten Satz lange Zeit braucht, überhaupt ihre Grundtonart zu finden, deren Abbrüche und Klüfte stellenweise an ein Gräberfeld erinnern.

Roth stellt das alles markant heraus, lässt auch das Klangkontinuum stellenweise zu einem Kaleidoskop der instrumental isolierten Motive zerbrechen. Da kommt die nackte Struktur zum Vorschein, die von Schönberg gar nicht mehr so weit weg ist. Nicht durchweg allerdings: Roth verweigert dem Streicher-Cantabile keineswegs die Wärme, und die dramaturgisch schlüssige Zusammenfassung beherrscht er, etwa in den quälend ausgereizten Steigerungsstrecken, mit fesselnder Souveränität.

Roth wählt übrigens auch insgesamt zügige Tempi, gibt sozusagen den „Anti-Celibidache“. Von Weihe und Weihrauch ist hier wenig zu merken, und Traditionsfans von Bruckner – nicht denjenigen freilich, die sich von dieser sinfonischen „Riesenschlange“ (Brahms) eh resigniert schlucken lassen – mögen ein paar Farben und Gesten fehlen. Wie auch immer: Das ist eine Bruckner-Deutung aus sehr individuellem Ansatz heraus, und dass das Orchester auf die Impulse vom Pult her, von ein paar Ungenauigkeiten abgesehen, mustergültig reagiert, ist in jeder Hinsicht geeignet, Rang und Würde des Unternehmens zu befördern.  

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