„Gymnastik“Performance mit improvisierten Tanzpassagen und chaotischer Dramaturgie

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Das Ballet of Difference und sein Chef Richard Siegal haben keine Angst vor anarchischem Trash.

Das Ballet of Difference und sein Chef Richard Siegal haben keine Angst vor anarchischem Trash.

Köln – Sie begann als Utopie, verwandelte sich in Faschismus, endete als kapitalistisch-rivalistischer Wettkampf. So sieht jedenfalls das Performance-Duo Gintersdorfer/Klaßen die Entwicklung der „Gymnastik“ in ihrem gleichnamigen Online-Stück, das am Schauspiel Köln am Wochenende uraufgeführt wurde. Anfang des 20. Jahrhunderts erfindet der Schweizer Émile Jaques-Dalcroze die rhythmische Gymnastik: repetitive Bewegungen, die Körper und Geist, aber auch menschliche Gruppen jenseits von Geschlecht, Klasse, politischer Haltung vereinen sollen.

In der gleichgeschalteten Bewegung entdecken dann die Nazis den organischen Volkskörper und die Russen züchten ab den 1940er Jahren Hochbegabungen, richten Wettkämpfe aus. Seit 1984 ist die rhythmische Sportgymnastik eine olympische Disziplin. Es geht um Konkurrenz, Drill, Nationalstolz, Punkte. Der Sport ist sexistisch und ungesund. Eine verlorene Utopie.

Genre-Grenzen zwischen Schauspiel und Tanz überschritten

Kein schlechter Stoff für ein Stück mit exquisiten, bis in die letzten Muskelfasern durchtrainierten Tänzern wie denen des Ballet of Difference. Und wer sich dieser Kompanie und ihrem extrem experimentierfreudigen Chef Richard Siegal verschreibt, weiß ohnehin, dass er oder sie vor keinem anarchischen Trash fies sein darf. Zum Beispiel: Turnen mit dicken, etwa einen Meter fünfzig langen Stoffwürsten: Wurst hochwerfen, schnell ein paar Pirouetten drehen, die Wurst mit dem Fuß auffangen und so kompliziert wie möglich um den Leib schlingen – so geht Olympia à la Gintersdorfer/Klaßen.

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Das Performanceduo bestehend aus der Regisseurin Monika Gintersdorfer und dem bildenden Künstler Knut Klaßen überschreitet schon seit 16 Jahren die Genre-Grenzen zwischen Schauspiel und Tanz. Bekannt wurden sie für ihre transkulturellen Arbeiten, in denen Künstler von der Elfenbeinküste auf europäische Darsteller trafen.

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Die gut gelaunten Stücke über kulturelle Aneignung, Übersetzungs- und Transformationsprozesse wuchsen sich gern zu ganzen Serien aus, die sich bestens am Tanzmarkt verkauften, lange bevor die zunehmend aggressiv geführten Debatten über Identitätspolitik uns das Fürchten lehrten. Aber jetzt, wo die Grabenkämpfe toben, analysiert Gintersdorfer/Klaßen nicht die Gegenwart, sondern blickt zurück in die 1920er Jahre, als die Künstler gleichermaßen Avantgarde wie Vorboten des Faschismus waren.

Improvisiert wirkende Tanzpassagen und chaotische Dramaturgie

In Solonummern karikieren die Tänzer mit abstrusem Gerät die Turn-Choreografien. Dazwischen erinnert man sich in ziemlich schwafeligen Textpassagen auf Englisch an die Stars der Goldenen 1920er, grübelt über deren politische Bedeutung und zieht Parallelen zum eigenen Tanz: Josephine Baker als exotische Ulknudel – hat sie rassistische Klischees bedient? Gebrochen? Und wie unvermeidlich „politisch“ ist heute ein schwarzer Tänzer auf der Bühne? Harald Kreutzberg mit seinem androgynen Tanz – ein Transgender-Pionier? Oder sollte man nicht vielmehr das binäre Denken endlich aufgeben?

Es sind im Grunde die typischen Ballet-of-Difference-Themen, hier allerdings nicht in glamourösen Choreografien, sondern in improvisiert wirkenden Tanzpassagen, chaotischer Dramaturgie und gelegentlich unscharfen Livekamera-Bildern. Das Freie, Unperfekte als anti-chauvinistische Geste kann man noch hinnehmen. Aber was die ästhetische Diversität völlig sprengt, ist die Musik von Hans Unstern. Seine Lyrik-Harfen-Kompositionen wirken dann doch so, als wäre diese schillernde Künstlerkreatur ins falsche Stück geraten. Eine fast zwei Stunden dauernde Online-„Gymnastik“-Einheit. Zu lang und zu anstrengend in ihrer Laissez-faire-Formlosigkeit.

Nächste Vorstellungen am 18. und 26. März um 19.30 Uhr, am 5. April, ganztägig abrufbar.

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