Holocaust-Comic„Maus“ stürmt nach Zensur-Versuch die Bestsellerlisten

Die preisgekrönte Graphic Novel „Maus“
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Tennessee – Der „Streisand-Effekt“ tritt ein, wenn der Versuch, eine unliebsame Sache oder Information zu zensieren, das genaue Gegenteil erreicht. Anfang der 2000er Jahre hatte Barbra Streisand eine Millionenklage gegen einen Fotografen angestrengt, dessen Luftaufnahmen die Erosion der kalifornischen Küste dokumentierten. Eine dieser Aufnahmen zeigte ihr Anwesen in Malibu. Dem hatte zuvor kaum jemand Beachtung geschenkt. Dank der Klage aber verbreitete sich das Bild millionenfach im Internet.
Dass Art Spiegelmans zweibändige Graphic Novel „Maus“ kaum Beachtung findet, kann man nun wirklich nicht behaupten. „Maus“ war 1992 das erste (und bis heute einzige) Comic, das mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, es war für viele Leser das erste Mal, dass sie überhaupt mit der Kunstform in Berührung kamen. Thema von „Maus“ ist der Holocaust – und der schmerzhafte Erinnerungsprozess der Überlebenden und ihrer Kinder.
Juden sind Mäuse, Nazis Katzen
Um das Unerträgliche darstellbar zu machen, erzählte Spiegelman die Geschichte seiner Eltern, die das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebt hatten, als Tierfabel: Juden sind Mäuse, Deutsche Katzen, Polen Schweine und Amerikaner Hunde. So konnte Spiegelman auch sein Hadern mit der eigenen Identität zeigen: Das eigene Maus-Gesicht zeichnete er als Maske.
Das Ergebnis ist ein literarisches Meisterwerk von ungeheurer emotionaler Wucht, das sich zugleich immer wieder selbst in Frage stellt. Aufgrund seiner besonderen Form eignet sich „Maus“ besonders gut dazu, Jugendlichen die Geschichte der Judenvernichtung zu vermitteln. Die Bände finden sich deshalb in vielen Schul-Lehrplänen wieder, auch in Deutschland.
Unangemessene Sprache
Nicht jedoch im Bezirk McMinn im US-Bundesstaat Tennessee. Dessen Schulbehörde hatte Mitte Januar beschlossen, die Graphic Novel vom Lehrplan zu streichen. Den Sitzungsprotokoll zufolge ging es zunächst nur um einige Fälle von „unangemessener Sprache“ in „Maus“. Den Sitzungsleiter stören insbesondere die Wörter „god damn“ (Gottverdammt) und „bitch“ (Miststück). Ob man die nicht bearbeiten könne?
Schnell weitet sich die Diskussion aus. Worte, die auf den Fluren verboten sind, dazu Bilder von Gehängten, oder von Menschen, die Kinder erschießen: So etwas könne man den Kindern doch unmöglich zumuten. Dazu noch Nacktheit. Das sei doch nicht gesund. Und überhaupt: Hat der Autor nicht früher auch für den „Playboy“ geschrieben? Die Einwände der Geschichtslehrerin, dass sich der Holocaust nicht unter Einhaltung der Benimmregeln abgespielt hätte, werden geflissentlich überhört. Am Ende der Debatte entscheiden zehn von zehn Mitgliedern, „Maus“ aus dem Lehrplan zu streichen.
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Ausgerechnet am Holocaust-Gedenktag machte die Entscheidung Schlagzeilen in den USA. Spiegelman selbst bekannte gegenüber CNN kopfschüttelnd seine Verblüffung: „Das sind ja keine Nazis. Die Sache ist viel dümmer.“ Die beanstandete Nacktheit sei ein winziges Panel, das seine Mutter zeigt, wie sie in der Badewanne liegt, nachdem sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hat. „Nichtsdestotrotz hat diese Entscheidung den Geruch von Autoritarismus und Faschismus.“
Mindestens ist sie wohl bigott zu nennen. Die Gegenreaktionen ließen nicht lange auf sich warten: Comic-Geschäfte boten „Maus“ zum vergünstigten Preis an, oder verschickten Freiexemplare an jeden Schüler, der sich aus dem betroffenen Bezirk meldet. Ein Professor aus North Carolina hält kostenlose Kurse zu „Maus“ ab. Und dann setzte der Streisand-Effekt ein und die beiden mehr als 30 Jahre alten „Maus“-Bände kletterten in die Top Ten der Amazon-Bestsellerliste. In vielen US-Buchhandlungen ist die Graphic Novel mittlerweile ausverkauft.
Als die Damen der Klatschsendung „The View“ nun den Vorgang diskutierten, verstieg sich Whoopie Goldberg zu der Äußerung, beim Holocaust gehe es nicht „um Rasse“. Prompt wurde sie für zwei Wochen vom Sender ABC suspendiert. Und bescherte „Maus“ so eine weitere, hochverdiente Runde im Nachrichtenzyklus.