Tova Friedman überlebte Auschwitz„Wenn der Antisemitismus wiederkommt, wie können wir da still sein?“

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Auf dem Bild besucht Tova Friedman die Gedenkstätte in Auschwitz.

Tova Friedman lebt heute in den USA

Tova Friedman ist eine Überlebende des Holocaust. Zusammen mit ihrem Enkel Aron betreibt sie einen TikTok-Kanal, um davon zu erzählen.

Tova Friedman hat den Holocaust überlebt. Sie war gerade einmal sechs Jahre alt, als das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit wurde. Es gibt sogar Filmmaterial davon, wie sie und andere Kinder auf Aufforderung sowjetischer Soldaten ihre Ärmel hochkrempeln und die Häftlingsnummern zeigen, die auf ihren Unterarmen tätowiert sind.

Heute ist Friedman 84 Jahre alt und lebt in den USA. Wegen der vielen Menschen, die von den Nazis ermordet wurden, fühlt sie eine starke Verpflichtung, ihre Geschichte zu erzählen. Das tut sie in ihrem Buch „Ich war das Mädchen aus Auschwitz“, das am 18. Januar in Deutschland erschienen ist.

„Ich war das Mädchen von Auschwitz“ zeigt, wie der Tod eine Normalität wurde

Dort beschreibt sie neben den Erinnerungen aus dem Vernichtungslager auch ihr Aufwachsen im jüdischen Ghetto Tomaszów Mazowiecki. „Seit meiner Geburt hatte ich in einer Welt gelebt, in der jüdisch zu sein bedeutete, dass man zum Sterben bestimmt war. Es war völlig normal, zum Sterben abkommandiert zu werden. Alle jüdischen Kinder starben.“

In diesem Grauen ging ihre Mutter sehr offen mit ihr um und log nicht, um die Situation zu beschönigen. Vielmehr bestätigte sie es, wenn ihre Tochter Grausamkeiten wahrnahm. „Ich weiß, dass diese Person gerade erschossen wurde, ich sah es“, erzählt Friedman im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Wenn dann jemand sagt: Nein, sie ist nur hingefallen, dann beginnt man selbst als Kind an dem eigenen Verstand zu zweifeln.“

Strikte Regeln für das Überleben im Vernichtungslager

So war sie sich schon sehr früh der Ungerechtigkeit bewusst, die um sie herum geschah. Mit dreieinhalb Jahren griff sie einen plündernden SS-Offizier an, der ihren liebsten Mantel mitnehmen wollte. Der SS-Mann trat das Kind achtlos beiseite und ging. Friedman lacht, als sie sich an die Begebenheit erinnert. „Es ist so interessant, dass mir dieser Mantel in diesem Moment wichtiger war als alles andere. Es war ein Symbol für mich, für etwas sehr Besonderes in furchtbaren Zeiten.“

Damals kannte sie noch nicht die Regeln, die sie für ihr Überleben befolgen musste. Die Mutter, die über den Vorfall schockiert war, trichterte ihr diese daraufhin gründlich ein. „Kein Augenkontakt. Sei unsichtbar. Gib keine Widerworte. Folge den Regeln. Hinterfrage nichts.“ Als sie bei Ankunft in Auschwitz erst von ihrem Vater und nach einem Monat im Lager auch vor ihrer Mutter getrennt wurde, kannte sie die Regeln. Man sagte ihr, sie solle sich diese Zahl einprägen, die da auf ihrem Arm tätowiert wurde. Sie tat es, obwohl sie noch nicht einmal Zahlen lesen konnte.

Bei TikTok antwortet Friedman auf Fragen in den Kommentaren

Jahrzehnte später kehrte sie als Überlebende nach Auschwitz zurück. Ihre Enkel begleiteten sie dabei, darunter auch Aron Goodman. Der veröffentlichte einen Film ihrer Besichtigung zuerst auf YouTube und gründete schließlich den TikTok-Kanal „TovaTok“, um die Erfahrungen seiner Großmutter auch einem jüngeren Publikum bekannt zu machen.

In kurzen Videos beschreibt Tova Friedman hier ihre Erlebnisse und beantwortet Fragen, die in den Kommentaren der Videos gestellt werden. Die User interessiert, wie die Gaskammern aussahen, ob sie im Lager auf Anne Frank traf oder ob sie ihre Häftlingsnummer zeigen kann. „Die Leute denken bei TikTok nur an leichtherzige Dinge“, erklärt Aron Goodman. „Es ist mehr als das. Es ist tiefer als das. Es ist ein Weg, um Kulturen und Ideen zu verbreiten, weil hier Menschen mit verschiedenen Hintergründen und Herkünften zusammenkommen, um sich mitzuteilen und auszudrücken.“

TikTok wurde immer wieder Zensur vorgeworfen, etwa in Bezug auf die Menschenrechtsverletzungen gegenüber der Uiguren. Friedmans Videos seien bisher nicht Ziel solcher Zensur geworden, sagt Goodman. Er bemängelt vielmehr die zu nachlässige Moderation. Immer wieder bekomme er antisemitische Beleidigungen oder sogar Drohungen, auch aus Europa. „Wenn ich klar antisemitische Videos oder Kommentare melde, passiert nichts. Ich habe Videos gesehen, die Hakenkreuze zeigen, die antisemitische Ideologien zu verbreiten. TikTok tut nichts dagegen.“

Sich Auschwitz vorzustellen ist unmöglich

Auch wenn Tova Friedman in ihrem Buch und ihren Kurzclips ihre Erfahrungen detailliert und schonungslos beschreibt, früher oder später stellt sich beim Gedanken an Auschwitz Sprachnot ein. Selbst sie könne nicht glauben, sagt die Überlebende, dass die Menschheit zu so einer Bosheit fähig ist. „Es ist schlimmer als alles, was man sich vorstellen kann.“ Egal, was für ein Bild man da im Kopf habe, oder was man gelesen habe, man müsse das mit Hundert multiplizieren.

Trotzdem sucht Tova Friedman Worte für das Grauen, denn die Erinnerung an den Holocaust soll dazu verhelfen, dass so etwas nie wieder passiert. Auch wenn das Erzählen böse Erinnerungen weckt und schlaflose Nächte verursacht: Still zu sein ist für sie keine Option. Der wachsende Hass gegenüber Juden bereite ihr große Sorgen, sagt Friedman. „Wenn der Antisemitismus wiederkommt, wie können wir da still sein? Wer sonst kann darüber reden als diejenigen, die das erfahren haben?“

Die Erinnerung an den Holocaust

Diese Aufgabe betrachtet sie nicht als Bürde, sondern als Verantwortung. Ihr Enkel trägt diese Verantwortung mit. Es schmerze ihn, dass er viele geliebte Mitglieder seiner Familie nie kennenlernen durfte, sagt Goodman. Die gegenseitige familiäre Unterstützung von Überlebenden und Nachfahren bedeute Tova Friedman sehr viel.

Kurz bevor die Nazis wegen der drohenden Niederlage das Vernichtungslager auflösten, wurde Tova Friedman abermals von ihrer Mutter gerettet. Sie half ihrer Tochter, sich bei einer Leiche zu verstecken und verbarg sich dann selbst. So haben beide überlebt. Als die Nazis weg waren und die sowjetischen Soldaten kamen, ließen Mutter und Tochter das Tor von Auschwitz Hand in Hand hinter sich. 

Und es gab noch eine gute Nachricht. Die Mutter fand Friedmans Vater auf einer Liste Überlebender aus Dachau. Die Familie wurde im Ghetto von Tomaszów Masowiecki wiedervereint, dann ging es in die USA. „Ich hatte in vielerlei Hinsicht Glück, dass sowohl meine Mutter als auch mein Vater nach dem Krieg überlebt hatten“, erzählt sie. „Jeder andere war getötet worden. In Amerika konnte ich studieren und heiraten, hatte Kinder und Enkelkinder. Viele gute Dinge sind passiert.“ Aber vergessen werde sie nie.

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