Ikonisches FotoWarum ein Schwarzer einen Rechtsradikalen rettete

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Patrick Hutchinson bringt einen rechten Demonstranten in Sicherheit

Patrick Hutchinson bringt einen rechten Demonstranten in Sicherheit

London – Als „Bürde des weißen Mannes“ überhöhte der englische Autor Rudyard Kipling die Ausbeutung indigener Arbeitskräfte durch die Kolonialmächte in seinem Gedicht „The White Man’s Burden“ aus dem Jahr 1899. „Halb Teufel und halb Kind“ seien die „frisch gefangenen und mürrischen“ Ureinwohner, und es sei Aufgabe und Last der Kolonisten, diesen das Licht der Aufklärung zu bringen, auch wenn sie nur Undank erwarte.

Das Bild des Agenturfotografen Luke Dray, aufgenommen vergangenen Samstag in London, zeigt die Kehrseite des Kipling-Gedichts: die Bürde des schwarzen Mannes. Diese ist, in allegorischer Deutlichkeit, in der Bildmitte zu sehen, mit hoch gerutschtem T-Shirt und leuchtend weißer, fleischiger Rückfront. Der Fitnesstrainer Patrick Hutchinson hat die weiße Last im sogenannten Gamstragegriff geschultert, wie ihn etwa Feuerwehrleute benutzen, um Menschen aus der Gefahrenzone zu schleppen.

Mit dringlichem Blick

Die schwarze Gesichtsmaske aufs Kinn gezogen, mit dringlichem Blick, versuchen Hutchinson und der Mann im grauen Hoodie neben ihm, den behelmten Polizisten am rechten Bildrand davon zu überzeugen, sie mit dem offensichtlich benommenen Mann durchzulassen.

Der Polizist hat abwehrend die linke, behandschuhte Hand erhoben. Die Situation ist in der Hitze des Augenblicks wohl auch nur schwer zu überblicken. Warum sollten schwarze „Black Lives Matter“-Demonstranten einen weißen Rechtsradikalen retten, um einen solchen handelt es sich nämlich bei unserer allegorischen Figur? Zumal aus einem Tumult, den dieser zusammen mit anderen Gleichgesinnten ja gesucht hatte?

Ungewöhnliche Rettungsaktion

Die Bilder von Hutchinsons ungewöhnlicher Rettungsaktion verbreiteten sich am Wochenende viral, seinen Namen und seine Beweggründe kannte man da noch nicht. Aber der ikonografische Charakter der Fotografien sprach für sich.

Was war geschehen? Spätestens seit Boris Johnson, Brexiteer der ersten Stunde, das Land regiert, ist die radikale Rechte Großbritanniens mehr oder weniger verzweifelt auf Themensuche. Als „Black Lives Matter“-Demonstranten in der vergangenen Woche in Bristol das bronzene Standbild eines Sklavenhändlers stürzten und im Hafen der Stadt versenkten, als daraufhin auch etliche andere Denkmäler zur Diskussion gestellt wurden — „Racist“ verkündete etwa ein Graffito auf dem Sockel der Churchill-Statue vor dem britischen Parlament —, sahen Rechtsextreme darin das Signal zu einem neuen Kulturkampf.

Zusammenstöße in London

Vor den für London angekündigten Demonstrationen am vergangenen Wochenende hatte nun der rechtsradikale Aktivist Tommy Robinson seine gewaltbereiten Gesinnungsgenossen via Facebook aufgefordert, sich nach London aufzumachen und umstrittene Monumente wie das Churchill-Denkmal zu „verteidigen“. Es kam zu Zusammenstößen.

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So auch vor dem Southbank Centre in der Nähe der Waterloo Bridge. Hutchinson und seine Freunde sahen, wie einer der rechten Gegendemonstranten inmitten der aufgebrachten Menge zu Boden ging, erkannten, dass er sich in Lebensgefahr befand. Die Gruppe bildete einen Korridor, Hutchinson hob den Gefallenen auf und trug ihn aus der Menge, die noch immer versuchte, auf den Mann einzuschlagen.

„Wir mussten tun, was wir tun mussten“

Auf einem anderen Foto sieht man, wie ein Freund Hutchinsons seine Arme schützend um den Kopf des Angegriffenen hält. „Wir mussten tun, was wir tun mussten“, erklärte der couragierte Fitnesstrainer später gegenüber der BBC. Dann zog er den Vergleich zum Anlass der weltweiten Proteste. Hätten die Kollegen des Polizisten, der den Afroamerikaner George Floyd vor den Augen der Kameras tötete, eingegriffen, er würde noch leben. Sie haben gleich mehrere Leben an diesem Tag gerettet, sagte ein anderer Beteiligter. Das des Mannes, der beinahe zu Tode geprügelt worden wäre – und die der jungen, aufgebrachten Männer, die eine lebenslange Haftstrafe erwartet hätte.

Es ging nicht um Feindesliebe, es ging um das Primat der Vernunft. Das ist dieser Tage des schwarzen Mannes Bürde.

Statuen wurden an diesem Tag keine mehr gekippt, dafür aber eine Bildikone geschaffen, die alle Sklavenhändler-Standbilder überstrahlt.

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