Im Fall Amanda Gorman„Übersetzen bedeutet immer, für jemand anderen zu sprechen“

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Amanda Gorman trägt zur Amtseinführung von Joe Biden ihr Gedicht „The Hill We Climb“ vor.

Frank Heibert, Sie sind einer der profiliertesten deutschen Übersetzer. Wie beurteilen Sie den Streit um die niederländische Übersetzung der afroamerikanischen Dichterin Amanda Gorman? Frank Heibert: Es war wohl so, dass der niederländische Verlag Marieke Lucas Rijneveld mit der Übersetzung beauftragen wollte, weil er da Ähnlichkeiten gesehen hat. Zwei junge literarische Stimmen, beide nicht Mainstream, beide prominent und so weiter. Meulenhoff hat dem Team von Frau Gorman also Rijneveld vorgeschlagen, und die hat wohl gesagt, ja, klingt doch gut. Aber natürlich kann sie nicht unbedingt beurteilen, wie eine Übersetzung von Marieke Lucas Rijneveld wäre.

Die Frage ist ja auch, wer das überhaupt beurteilen darf?

Hier gehen mehrere Themen etwas durcheinander. Zum einen: Grundsätzlich stimmt das, was von den Menschen eingefordert wird, die sich als „woke“ bezeichnen. Jahrhundertelang haben Privilegierte Nicht-Privilegierte diskriminiert: nicht derselbe Zugang zu Bildung, nicht dieselbe Redezeit oder Präsenz in der Öffentlichkeit, keine Chancengleichheit. Diese Diskriminierung muss endlich aufhören.

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Frank Heibert

Das andere ist aber, dass jetzt teilweise eine Art Automatismus bei der Frage entsteht, wer sich zu etwas äußern darf oder nicht. Wer schreiben, sprechen, auftreten oder eben auch übersetzen darf. Die Entscheidung läuft vorrangig darüber, welche Person das ist, und nicht darüber, was diese Person sagt, beziehungsweise welche Qualität das Gesagte haben könnte. Und das ist ein Problem. Sowohl, weil es gegen unsere Prinzipien von Offenheit und Redefreiheit spricht. Als auch, weil es ja keine Garantie dafür gibt, dass am Ende dadurch das Bessere gesagt wird.

Das müssen Sie mir erläutern.

Die Argumentation ist ja, die weißen, privilegierten Menschen sollen nicht länger anstelle von denen sprechen, die nicht weiß und nicht privilegiert sind. Zunächst ist das richtig: Kein Weißer soll sich hinstellen und sagen, ich weiß Bescheid, was es bedeutet, als Schwarzer diskriminiert zu werden. Wer genau das Erlebnis haben will, wie Amanda Gorman poetisch und politisch und für sich spricht, der kann sowieso nur das Original lesen oder hören. Aber hier geht es um Übersetzung. Übersetzen bedeutet immer, an der Stelle von jemand anderem zu sprechen. Übersetzung ist immer Übersetzung und nicht das Original. Und wie soll sich die Kompetenz einer Person ermessen lassen, die übersetzen soll? An ihrem übersetzten Text! Die Identität dieser Person allein garantiert für nichts.

Dann hätte im Prinzip aber nichts gegen Marieke Lucas Rijneveld gesprochen?

Jetzt kommt der Punkt, der in der Debatte leider oft völlig weggefallen ist: Marieke Lucas Rijneveld hat keine Übersetzungserfahrung, sondern schreibt Literatur. Dass Autoren und Autorinnen automatisch auch übersetzen können, ist eine Annahme, die gerne gemacht wird, aber nicht stimmt. Es gibt manche Beispiele dafür, dass sie nicht übersetzen, sondern eine Bearbeitung in ihrem eigenen Stil abliefern. Wenn Peter Handke aus dem Französischen übersetzt, dann ist das Handke und hat mit den jeweiligen Autoren stilistisch nur noch wenig zu tun. Die Kalkulation, Marieke Lucas Rijneveld wegen des International Booker Prize zu engagieren, war von dem holländischen Verlag ein Schielen nach Erfolg. Unglückseligerweise hat Rijneveld in einem älteren Interview auch noch erwähnt, nicht besonders gut Englisch zu können.

Die Aktivistin Janice Deul, die den Fall losgetreten hat, sagt ja durchaus, dass Rijneveld keine Erfahrung auf diesem Gebiet mitbringt.

Deul hat aber auch eine Liste von niederländischen BIPoCs als mögliche Übersetzerinnen genannt, also black, indigenous people of color, die allesamt, wie Gorman, Spoken Word Poetry Artists seien. Keine einzige Übersetzerin dabei, da wird derselbe Fehler gemacht. Die Identität und die Beschäftigung mit Spoken Word Poetry genügt ihr.

Zur Person

Frank Heibert (60) übersetzt seit den 80ern aus dem Englischen, Französischen, Italienischen, Spanischen und Portugiesischen, u. a. Don DeLillo, Richard Ford, Boris Vian und Raymond Queneau. Er hat einen Roman und mehrere Jazz-Alben veröffentlicht.

Die 29-jährige Booker-Preisträgerin Marieke Lucas Rijneveld sollte Amanda Gormans ersten Gedichtband ins Niederländische übersetzen. Nach einer Debatte darüber, ob sie dazu als weiße, nicht-binäre Person überhaupt geeignet sei, trat Rijneveld „geschockt“ von dem Auftrag zurück.

Ein längerer Artikel von Frank Heibert zum Thema erscheint auf Tell-Review.

An der Stelle muss man verlangen, dass das Ganze ein wenig differenzierter betrachtet wird. Wenn es in den Niederlanden schwarze Übersetzerinnen gibt, die auch mit dieser Textform Erfahrung haben, wunderbar! Die sollen vortreten. Die sollen das machen. Und selbst das wäre keine Garantie, auch da könnte es welche geben, die es nicht gut machen. Falls es so ist, dass es schwarze Übersetzerinnen gibt, denen der Beruf schwer gemacht wird, dann muss sich das dringend ändern. Aber es wäre keine Verbesserung, einfach eine niederländische BIPoC-Autorin zu engagieren, die dann die erste Übersetzung ihres Lebens macht.

Und wer soll es nun tun?

Sie können die Sache auch zuspitzen und fragen: Dürfen nur schwarze Frauen Amanda Gorman übersetzen? Frau Gorman hat aber nicht nur einen politischen „Black Lives Matter“-Text geschrieben, sondern ist vor allem Dichterin. Das Sprachliche sollte hier ein ebenso wichtiges Argument sein. Übersetzen bedeutet eben nicht einfach, dass jemand Englisch und Niederländisch kann, sondern es ist eine dritte Fähigkeit, die nicht jeder Person gegeben ist. Es gibt Millionen Menschen, die mehr als eine Sprache können. Aber die wenigsten von ihnen können Literatur übersetzen.

Ist der persönliche Hintergrund des Übersetzenden also egal, hauptsache er oder sie kann gut übersetzen?

Nein, so einfach ist es auch nicht. Natürlich sollte in diesem Fall nicht einfach ein guter weißer Übersetzer genommen werden, und wir brauchen nicht weiter darüber nachzudenken. Es könnten Probeübersetzungen von Kandidatinnen und Kandidaten eingeholt werden. Dann ließe sich erkennen, ob der übersetzte Text sprachlich stimmt und äquivalent wirkt, ob die Einfühlung, die für das Übersetzen jedes Textes notwendig ist, geleistet wurde oder nicht.

Also muss es doch irgendwo einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund zwischen Autor und Übersetzer geben?

Nicht unbedingt. Sonst müssten wir ja sagen, wenn wir das jetzt aufs Schauspiel übertragen: Du willst Ödipus spielen? Dann bring erstmal deinen Vater um, sonst weißt du doch gar nicht, wie sich das anfühlt. Ich habe mich vor ein paar Jahren mit meinem Mann, dem Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel, ein bisschen darüber gestritten, wer von uns das erste Buch des französischen Autors Édouard Louis übersetzt. Ich hatte das Gefühl, dass sehr viel von dem, was da drin stand, mit meinem eigenen Erleben übereinstimmte. Ich fühlte mich also quasi berufener dazu. Bei Hinrich war das weniger so. Der Verlag hatte aber ihn gefragt, und er hat es super übersetzt. Er hat sich eingefühlt, ohne dass er dazu dasselbe hätte erleben müssen. Letztlich hat doch niemand das erlebt, was ein anderer Mensch erlebt hat.

Aber es hilft doch, wenn man es nachvollziehen kann?

Ich übersetze in dieses Jahr einen italienischen Autor, in dessen Hauptwerk ein ganzes Kapitel voll von galoppierender Homophobie ist. Was mache ich damit? Sage ich dem Verlag, dass er sich jetzt bitteschön einen homophoben Übersetzer suchen muss? Nein, ich werde es übersetzen. Und ich werde auch ein Nachwort dazu schreiben. Denn ich sehe die literarische Qualität der Sprache, die mich reizt, und muss mich trotzdem zu dem verhalten, was dort inhaltlich verhandelt wird. Das kann ich, weil ich keine Geisel meiner biografischen Erlebnisse bin. Darin, dass ich mich einfühle in etwas Anderes, als ich bin, liegt ja gerade ein großer Reiz des Übersetzens.

Hoffmann und Campe lässt gleich drei Übersetzerinnen an der deutschen Übertragung von Amanda Gormans Gedichtband arbeiten, zwei mit Migrationshintergrund, eine davon schwarz, aber nur eine professionelle Übersetzerin. Wie finden Sie das?

Der Verlag vereint die Kompetenzen im Team, weil er nicht eine Person findet, auf die alle Anforderungen zutreffen. Wenn man findet, dass eine sehr gute Übersetzerin, weil sie weiß ist, die Einfühlung nicht allein schafft, kann man das so machen. Wäre Uda Strätling allein beauftragt worden, hätte sie ihre Übersetzung bestimmt sowieso von jemandem mit der nötigen sensitivity gegenlesen lassen, das ist Teil des übersetzerischen Ethos.

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Der Prozess im Trio dauert sicher länger, aber er ist spannend und bestimmt fruchtbar. Im Übersetzerverzeichnis steht übrigens natürlich nicht, welche Hautfarbe jemand hat. Und das wollen wir ja auch nicht haben, dass dort steht: männlich, schwul, jüdisch, weiß oder so. Das bedeutet aber nicht, dass wir die Sensibilitäten, die sich mit jedem einzelnen dieser Punkte verbinden, außen vorlassen können. Egal sind die keineswegs. Das Problem sind die Automatismen.

Man könnte Übersetzungen freilich auch als ein Instrument der Aneignung verstehen, so wie sich die weiße Rockmusik den schwarzen Blues angeeignet hat.

So etwas steht wirklich genau auf der Rasierklinge. Es gibt Autorinnen und Autoren, die weiß sind, aber Romane über die Diskriminierung nicht-weißer Personen geschrieben haben. Das finde ich hochproblematisch. Weil sich da ja wirklich jemand anmaßt, für diese Personen sprechen zu können. Übersetzen bedeutet dagegen, für jemanden anderen zu sprechen, weil dieser jemand das in meiner Sprache nicht kann. Mich in das Andere einzufühlen und in meiner Sprache den Stil und die Wörter für dieses Andere zu finden. Das tue ich aber im Dienst des Originals, dem ich damit im besten Fall ein Leben auch in einer anderen Kultur ermögliche. Das ist keine raubende, kolonialistische Aneignung, sondern eine, die die Literatur und den Austausch unter den Menschen bereichert.

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