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Jazz aus KölnDas Geheimnis dieser Musik ist ein großes Abenteuer

Lesezeit 5 Minuten
Constantin Krahmer sitzt auf einem Dachboden.

Der Pianist Constantin Krahmer

Herausragende neue CDs mit zeitgenössischem Jazz aus Köln, unter anderem von Constantin Krahmer und Emilia Gołos. 

Zeitgenössischer Jazz kann eine ebenso große wie großartige Herausforderung sein. Wenn Harmonien an ihre Grenzen herangeführt werden, wenn sich minimale Melodiefolgen in maximaler Freiheit intensiv entwickeln, dann entsteht eine aufregende Musik, die sich ihre ganz eigenen Ausdrucksformen erschafft. Zeitgenössischer Jazz ist keine Musik für den Hintergrund, sie verlangt volle Aufmerksamkeit. Mitunter können die Klangbilder, Klangschichten und Sound-Cluster stören, sogar verstören, und doch laden sie gerade in solchen Momenten dazu ein, sich auf eine ungehörte Musik einzulassen, die nicht unmittelbar greifbar ist.

Frei musizierenden Jazz-Künstlerinnen und -Künstlern live auf der Bühne bei ihrer schöpferischen Arbeit beizuwohnen, erleichtert oft den Zugang zu einer in alle Richtungen experimentierenden Musik. Eine ähnliche Offenheit und Lust bringt man beim Hören von CDs vergleichsweise weniger auf. Während man eher die Bestätigung dessen sucht, was man bereits kennt, bedürfen etliche Spielformen des zeitgenössischen Jazz der Bereitschaft, sich auf ein musikalisches Abenteuer einzulassen und sozusagen die Schönheit im Abstrakten zu entdecken.

Ich suche nach Musik, die dazwischen liegt: zwischen Tonalität und Atonalität, schönen Liedern und brutaler Improvisation
Emilia Gołos

Dabei machen es einem Musiker wie Fabian Dudek gar nicht mal so schwer: „Mein Ziel ist es“, sagt der Altsaxofonist und Flötist, „eine Mischung zu schaffen, die Spaß macht und gleichzeitig Brücken zum Abstrakten schlägt, die alle Menschen einlädt, sie zu begehen.“ Auf seinem jüngsten Album „This Every Place“, aufgenommen im Kölner Stadtgarten, ergänzt er sein Quartett aus Felix Hauptmann (Klavier), David Helm (Bass) und Fabian Arends (Schlagzeug) um die Ausnahme-Saxofonistin Ingrid Laubrock, was seine Musik noch einmal deutlich intensiviert – falls dies überhaupt möglich ist.

Hilfreich kann es sein, das letzte Stück des Albums zuerst zu hören: „Streetlight Dawn“, benannt nach einem Cocktail aus einer Bar in Manhattan, entwickelt sich mit sekündlich gesteigerter Intensität: Hauptmann unterlegt den Rhythmus mit einem surreal delirierenden Synthesizer-Sound, über dem sich die energiegeladenen Saxofone impulsiv austoben. Angesichts solcher Energie erschließt sich das brillante, 18-minütige Hauptstück „Where Thoughts Provoke“ fast schon von selbst: als raumgreifender Exkurs, reich gefüllt mit Improvisationen und Interaktionen.

Dass musikalische Gedanken provozieren, könnte man auch Emilia Gołos unterstellen – völlig zu Unrecht! Der Mitschnitt ihres Bachelor-Konzerts zum Abschluss ihres Studiums an der Kölner Hochschule für Musik und Tanz wurde live im Loft mitgeschnitten. Geduldig verdichtet die polnische Pianistin gemeinsam mit Victor Fox (Saxofon), Roger Kintopf (Bass) und Jakob Görris (Schlagzeug) lyrische Passagen zu mächtigen Klangwolken, die gewitternahe Böen mitführen, bevor sie in Ruhe abregnen. „Ich suche nach Musik“, sagt Gołos, „die dazwischen liegt: zwischen Tonalität und Atonalität, zwischen starkem Rhythmus und ad libitum, zwischen schönen Liedern und brutaler Improvisation.“

Constantin Krahmers Kompositionen scheinen Prokofjew aufzugreifen

Ebenfalls im Loft wurde „Visions Fugitives“ des Pianisten Constantin Krahmer aufgenommen. Zum Septett gehören die Saxofonisten Luise Volkmann und Sebastian Gille sowie Michael Heupel (Flöten), Johannes Lauer (Posaune), Bertram Burkert (Gitarre) und Leif Berger (Schlagzeug), ein Dream-Team, das die kleinen, auf und ab purzelnden Melodien in vielschichtige Klangfarben ausschmückt. Kammermusikalische, lyrisch-fragile Passagen fließen in freie Energiefelder, in denen vor allem die Saxofone dramatisch Zwiesprache halten. Die Kompositionen fügen sich zu einer Art Suite, die nicht nur im Titelstück den Gedanken der „flüchtigen Erscheinungen“ aus den Klavierstücken Sergej Prokofjews aufzugreifen scheint. „In jeder flüchtigen Erscheinung sehe ich Welten, voll vom Wechselspiel der Regenbogenfarben“, heißt es im Gedicht des Lyrikers Konstantin Balmont, auf das sich nach Prokofjew nun auf Krahmer eindrucksvoll bezieht.

Den vagen Charakter eines Konzeptalbums hat auch „ism“ des Schlagzeugers Jens Düppe, der sein Quartett mit Frederik Köster (Trompete), Lars Duppler (Klavier) und Christian Ramond (Bass) um den italienischen Saxofonisten Francesco Bearzatti erweitert hat. Düppe variiert die Besetzung vom Duett bis zum Quintett, wobei es in besonderem Maße die hinreißend agierenden Bläser Köster und Bearzatti sind, die im Trio mit Düppe Fenster und Türen aufstoßen. Tatsächlich ist „ism“ durch und durch das Album eines Schlagzeugers, der mit rhythmisch präzisen Mitteln die Impulse vorgibt und Stimmungen ausmalt. Mitunter färbt Düppe sein Tongemälde dramaturgisch geschickt mit elektronischem Beiwerk ein: Das Schlagzeug-Intro zu „Hit It“ unterlegt er mit dem tiefen Grundton des Beckens im Sub-Bassbereich, den er mittels Mini-Keyboard zu einem magischen Klang ausbaut, über den die Bläser virtuos improvisieren.

Während Düppe abenteuerlich freie Exkurse als die logisch konsequente Entwicklung seiner Musik einbezieht, hält er sich bei allen Freiheiten doch stets an die Form. Einen Schritt weiter geht Philip Zoubek, der mit David Helm und Dominik Mahnig das Trio Placebo Domingo bildet. Auf „First Crash“ ist der Pianist ausschließlich am Synthesizer zu hören, Bassist Helm nutzt neben Gitarre und Effekten seine Stimme, während Schlagzeuger Mahnig mitunter sphärische Blockflötentöne einstreut. Wuchtig und unvorhersehbar experimentieren sie mit Klangstrukturen und folgen doch einem Narrativ.

Die Verweise einiger Titel auf Kinofilme geben vage Orientierungshilfe: Gleich zu Beginn überspringt das chaotische „Rambo“ die Klangmauer, um danach mit Stücken wie „Dusk Till Dawn“ oder „Down to Earth“ zu einem grenzenlosen (Weltraum-)Flug zu starten. Ohne Netz und doppelten Boden entwickeln sich frei gestaltete Kunststücke, bis einen die finalen Stücke „Portal“ und „Last Voyage“ tatsächlich in einen fernen Kosmos entführen. Das ist so komplex wie einfach, so „wild“ wie transparent, so herausfordernd wie einladend – und so sehr man versucht, diese individuelle und doch gemeinschaftliche Musik zu durchdringen, erkennt man, dass ihr Geheimnis das eigentliche Abenteuer ist.


Diskografische Hinweise:

Fabian Dudek: This Every Place. Traumton Records;

Emilia Gołos Quartet: Live at Loft Köln. emiliagolos.com/Bandcamp;

Constantin Krahmer Septett: Visions Fugitives. Yew Records/Bandcamp;

Jens Düppe: ism. Enja/Deutschlandfunk;

Placebo Domingo (Zoubek/Helm/Mahnig): First Crash. Galileo Music