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KlassentreffenNach 45 Jahren sehen wir uns wieder – und staunen, was aus uns wurde

5 min
Senior friends socializing and hugging outdoors in an urban setting model released, Symbolfoto, JCCMF12883

Zwei Menschen umarmen sich freudig. Nach 45 Jahren hat unser Autor seine alten Klassenkameradinnen und -kameraden wiedergetroffen. (Symbolbild)

Unser Kolumnist Frank Nägele schwelgt in der Nostalgie eines Klassentreffens – und lernt daraus fürs Leben.

Ein Klassentreffen 45 Jahre nach dem Abitur ist eine riskante Sache. Die Begegnung mit der Vergangenheit kann aus so großer Entfernung leicht schiefgehen. Immerhin hatte ich lange Zeit eine gute Ausrede. Wer mehr als 40 Jahre lang jedes Wochenende in der Redaktion oder auf den Fußballplätzen dieser Republik gearbeitet hat, war eben nicht verfügbar. Die Ausrede steht mir als Privatier jetzt nicht mehr zur Verfügung. Also fuhr ich mit dem Zug nach Stuttgart, wo in den ersten 26 Jahren meines Lebens dessen prägende Dinge geschahen. Nicht wenige davon im Kreis der Menschen, die ich wiedersehen sollte.

Unser Gymnasium war damals nicht der pädagogische Stolz der Stadt. Es lag in einem klassischen Arbeiterviertel und galt Menschen mit höheren Ambitionen als eine Art sozialer Brennpunkt. Deshalb hätte mich mein Vater viel lieber in jener Eliteanstalt gesehen, die ihre Schüler dazu zwang, tote Sprachen wie Latein und Altgriechisch intensiver zu lernen als Englisch, und als Gegenleistung künftige Ärzte, Anwälte und Wissenschaftler ausspuckte. Meine Mutter war total dagegen. Von den vielen Streitigkeiten, die meine Eltern zu dieser Zeit austrugen, war dies diejenige, die mir am meisten einleuchtete. Meine Mutter gewann, und ich bin ihr noch heute sehr dankbar dafür.

Ein Abitur, das fast alle Fragen offen ließ

Allerdings nahm mein Gymnasium bis 1971 einer 60-jährigen Tradition folgend nur Jungen auf. Das war für meine Pubertät und die Zeit danach wenig hilfreich. Deshalb wird fortan vor allem von Männern die Rede sein, denn echte, leibhaftige Mädchen stießen als Einzelexemplare erst in der Oberstufe zu uns. Daraus entstanden in unserer Gruppe wundersamerweise drei erfolgreiche Ehen, die bis heute Bestand haben. Was für ein Glück, wenn einem die Schule so etwas schenkt. Ich hatte nach neun turbulenten Jahren nur ein halbwegs ordentliches Abitur in der Hand, das fast alle Fragen offen ließ.

Der Ur-PC oder Schreibtischrechner wurde am 12.08.1981 auf den Markt gebracht - von dem Hersteller IBM. (Archivbild)

Der Ur-PC oder Schreibtischrechner wurde am 12.08.1981 auf den Markt gebracht - von dem Hersteller IBM. (Archivbild)

Mit leichtem Bangen betrat ich also neulich unseren Treffpunkt – ein Wirtshaus auf den Weinbergen über der Stadt. Und Hagen war schon da. Die 45 Jahre zwischen diesem und unserem letzten Aufeinandertreffen verschwanden schon mit dem ersten Satz. Eine Epoche, in der der Kommunismus unterging, die deutsche Teilung beendet wurde, Heimcomputer, Mobiltelefon und Internet erfunden wurden, die Welt auf die Größe einer Smartphone-Oberfläche schrumpfte.

Als wäre alles erst gestern geschehen

Diese Kulturrevolutionen haben alles verändert, aber nicht den Geist, in dem wir Abiturienten des Jahrgangs 1980, als wäre alles erst gestern geschehen, miteinander sprachen: über das Schultheater, dessen Hauptdarsteller Hagen mit seiner umwerfenden Präsenz war; das ausgezeichnete Orchester, in dem ich Klarinette spielte; den legendären Englischlehrer, der uns die wichtigste aller Sprachen wunderbar näherbrachte; die Französischlehrerin mit dem adligen Namen und der Vorliebe für knappe Oberteile; den Religionslehrer mit der Liebe zu Brecht und Zwiebelkuchen, den wir während des Unterrichts regelmäßig vom Bäcker auf der anderen Seite der Straße holen sollten.

Und wir sprachen auch ein wenig über die Zeit danach. Wie Hagen ohne konkreten Plan dann einfach Schreiner wurde und ein bis heute erfolgreiches Unternehmen gründete, während ich in den Journalismus stolperte, weil mein Abi zu schlecht für mein Traumstudium Biologie war.

Einladung nach Arizona

Wie aus dem Nichts erschien Ralf, mein Nebensitzer im Bio-Leistungskurs, der sich seinen Traum von diesem Studium erfüllte, indem er irgendwie einen College-Platz in Missouri ergatterte, alles hinter sich ließ und zu einem führenden Gen-Forscher an einer großen Uni im Nordwesten der Vereinigten Staaten wurde. Dort lernte er seine Frau Michelle kennen, die an seiner Seite zur Vizepräsidentin eines amerikanischen Biotech-Unternehmens aufstieg. Sie waren beide für das Treffen aus Arizona angereist. Es ist derselbe Ralf wie damals. Nur mit zwei Pässen. Er findet Trump und das politische System in den USA zum Kotzen und denkt über eine Rückkehr nach Deutschland nach. Aber wenn ich mal in der Nähe von Arizona sein sollte, bin ich herzlich eingeladen.

Auch Auswanderer Ralf kann Donald Trump nicht leiden.

Auch Auswanderer Ralf kann Donald Trump nicht leiden.

Mit Manfred habe ich für eine kurze Zeit in einer Band gespielt, um beim Schulfest eine der umschwärmten Königinnen aus dem Jahrgang unter uns zu beeindrucken. Selbstverständlich ohne Erfolg, denn „House of the Rising Sun“ und „Norwegian Wood“ klingen aus einer Klarinette weniger geil als auf sechs Saiten. Manfred besaß als erster Mensch, den ich kannte, einen Synthesizer. So hat es mich nicht gewundert, als er mir verriet, dass er nach Lehrjahren beim WDR ein führender Tontechniker beim Südwestrundfunk wurde. Wir haben viele Jahre in relativer Nähe zueinander gelebt, ohne es zu wissen.

Eine Liste für die Lehrer, die uns für einen verkrachten Haufen hielten

Die einzige konstante Brücke in meine Schulzeit war über die Jahrzehnte hinweg der gute Andy, zu dem die Freundschaft nie abriss. Seiner Detektivarbeit haben wir alle dieses Netzwerk zu verdanken, das uns regelmäßige solche Treffen ermöglicht. Er ist Verleger geworden, mit seiner eigenen Firma für Schriften aller Art. Es gibt keine zwei Schüler von damals, die exakt denselben Weg eingeschlagen haben. Axel wurde an der Seite seiner Ehefrau Karen, die in Bio gern von mir abschreiben durfte, ein gefeierter Top-Gastronom. Gerd flog als Pilot den Airbus A380 und lebte lange in Dubai. Peter wurde Zahnarzt und behandelte viele Jahre lang meinen Lieblingsonkel Peter.

Stefan, der Hobby-Zauberer, wurde Lehrer. Bernd leitet als Professor für Energietechnik eine Technische Universität. Elke führt erfolgreich ein Reiseunternehmen. Akis ging zurück nach Griechenland und machte dort zwei Karrieren – eine als Anwalt, eine andere als Besitzer eines Heavy-Metal-Labels. Markus ist in der Schweiz mit Entwässerungsanlagen wohlhabend geworden. Bernhard konnte dank des Familienvermögens Mitte der 80er nach Monaco übersiedeln, wo er als Trader am Finanzmarkt ein privilegiertes Leben führt, was seinem freundlichen, zurückhaltenden Wesen nicht geschadet hat.

Die Liste geht immer so weiter. Und ich würde sie gern all den Experten unter den Lehrkräften von damals vorlesen, die der festen Überzeugung waren, dass aus einem verkrachten Haufen wie dem unseren niemals etwas Gescheites werden könne. Aus biologischen Gründen geht das aber nicht.

Auf dem Weg zurück ins Rheinland begleiteten mich neue Erkenntnisse darüber, warum mein Leben genau diesen Verlauf genommen hat. Und Andy schrieb in der Gruppe: „Es war wieder viel zu wenig Zeit. Wir treffen uns wieder am 18. Juli 2026.“

Ich werde dabei sein.