Susanne Abel hat einen Generationenroman über das Schicksal von zwei Heimkindern geschrieben, der zu großen Teilen in Köln spielt.
Kölner Autorin Susanne Abel„Ich habe nicht eine dieser Grausamkeiten erfunden“

Susanne Abel
Copyright: Anja Schlamann
Frau Abel, das Thema Schweigen innerhalb von Familien zieht sich durch Ihre Bücher. Schweigen über Familiengeheimnisse in der Nachkriegszeit oder – wie jetzt in Ihrem aktuellen Buch - über die Misshandlung von Kindern in Heimen. Ist dieses Schweigen etwas, das viele ihrer Leser und Leserinnen selbst erlebt haben?
Von den Reaktionen auf meine ersten beiden Bücher weiß ich, dass das Schweigen ein Riesenthema in vielen deutschen Familien ist. Unsere Eltern und Großeltern haben derart schlimme Dinge erlebt, die wir uns überhaupt nicht vorstellen können. Inzwischen kann ich sogar gut nachvollziehen, dass sie sich irgendwann gesagt haben: Wir müssen funktionieren - Deckel drauf und versuchen zu vergessen. Auch wenn ich natürlich weiß - auch aus eigener Erfahrung - dass dieses Schweigen Folgen hat und das Leben der nachfolgenden Generationen beeinflusst.
Warum Täter schweigen, ist klar. Aber warum, glauben Sie, dass es auch Opfern oft nicht möglich war oder ist, über das zu sprechen, was sie erlebt haben?
Den Heimkindern wurde jahrelang eingeprügelt, dass sie ein Nichts sind. Woher sollten sie danach das Selbstbewusstsein nehmen und die Kraft für sich einzustehen? Ich denke, viele haben geschwiegen, weil sie sich geschämt haben.
In Ihrem neuen Buch schreiben Sie über die fatalen Folgen, die das Schweigen für Familien haben. Aber sehen Sie auch eine positive Funktion, nicht über die schmerzhafte Vergangenheit zu sprechen?
Die Nachfolgegeneration hat natürlich ein Recht darauf, aufarbeiten zu können, was in ihren Familien passiert ist. Und den Opfern tut es mit Sicherheit gut, wenn sie darüber sprechen. Aber wenn sie es nicht können, wenn sie es nicht verkraften - dann haben sie auch ein Recht darauf zu schweigen. Ich beschreibe vier Generationen. Die Urgroßeltern sind Heimkinder, ihre Tochter und die Enkelin geprägt von diesem Leid. Erst Emily, das jüngste Familienmitglied, beginnt das Schweigen zu brechen und alles zu hinterfragen. Vielleicht kann sie das, weil sie den zeitlich größten Abstand zu dem Leid ihrer Urgroßeltern hat.
Die Kinder im Heim sind ja komplett unverschuldet dorthin geraten – oft, weil ihre Eltern im Krieg gestorben waren. Oder zumindest nicht mehr auffindbar. Können Sie sich erklären, warum diese Kinder gesellschaftlich so abgewertet wurden?
In der Nachkriegszeit war schwarze Pädagogik üblich, Kinder hatten zu funktionieren. Das Personal in den Heimen war in aller Regel nicht ausgebildet und offensichtlich mit den viel zu vielen Kindern überfordert. Uneheliche Kinder galten als Sünde und sind, wie ihre Mütter, durch alle Raster gefallen. Viele dieser Kinder haben aufgrund der fehlenden Zuwendung Verhaltensstörungen entwickelt, die als solche nicht erkannt wurden. Im Gegenteil, sie wurden dafür bestraft und wurden dann noch verhaltensauffälliger – und folglich abgewertet.
Die Grausamkeit, die sie beschreiben, mit der die Heimkinder behandelt werden, ist erschütternd.
Obwohl mein Roman fiktiv ist, habe ich nicht eine dieser Grausamkeiten erfunden. Ich habe mich vor allem beim Recherchieren immer wieder gefragt, wie Menschen - gerade Christen, die die Nächstenliebe vor sich her tragen - zu so etwas in der Lage sind. Und es erschüttert mich, dass all diese Verbrechen verschleiert wurden und die Institutionen, in denen sie geschehen sind, immer nur so viel zugeben, wie man ihnen nachweisen kann. Ich will in diesem Zusammenhang erwähnen, dass nicht nur in Heimen der katholischen Kirche so zuging, sondern auch in evangelischen oder staatlichen. Und der Gerechtigkeit halber will ich auch sagen, dass es sicherlich auch gute Nonnen und warmherzige Diakonissen gab. Aber wenn man sich mit den Schicksalen befasst, die in den letzten 25 Jahren auch durch den runden Tisch Heimerziehung veröffentlicht wurden, dann weiß man, dass die Verbrechen keine Ausnahme waren.
Medikamententests an Heimkindern, Vernachlässigung, Gewalt - könnte so etwas unter anderen Umständen in Deutschland wieder passieren? Oder glauben Sie, dass sich eine Gesellschaft zum Positiven verändern kann?
Trotz allem Negativen, das ich in meinem Leben recherchierte, bin ich Optimistin. Deswegen glaube ich, dass heute jemand aus so einem Team im Heim sagen würde: Das halte ich jetzt nicht mehr aus: Damit gehe ich jetzt zur Polizei oder ich zeige die Heimleitung an. So, wie es im Buch von mir beschrieben wird, würde es schon allein deshalb nicht mehr funktionieren, weil die Heime anders aufgebaut sind. Es gibt nicht mehr den einen Arzt, der alles bestimmen kann. Und es gibt einen anderen Personalschlüssel. In all diesen pädagogischen Institutionen arbeiten heute ausgebildete Menschen.
Sie haben sehr viel recherchiert für den Roman - warum war Ihnen das wichtig?
Ich bin eigentlich Filmemacherin. Recherchieren, Faktengenauigkeit - das ist für mich handwerkliche Ehrensache. Und darüber hinaus glaube ich sogar, dass die Realität viel stärker ist als die Fiktion.
Wie gehen Sie bei der Recherche vor?
Wenn ich irgendeinen Funken habe, oder eine Idee - dann werfe ich das Schleppnetz aus - und gucke und lese erstmal ergebnisoffen. Nach und nach verdichtet sich das dann. Ich notiere mir viel und mache Themenblöcke. Dabei merke ich mir auch aberwitzige Dinge, denn ich versuche, meine Bücher so zu schreiben, dass sie man trotz aller Härte beim Lesen auch einmal Luft holen oder sogar schmunzeln kann. Beim Schreiben hilft mit das übrigens auch.
Sie haben früher Filme gemacht – merken Sie das beim Schreiben?
Tatsächlich schaue ich mir die Handlungsorte wie beim Drehen genau an. Wenn ich die Szene dann beschreibe, erlebe ich das sehr filmisch und bin völlig abgetaucht in dieser Welt.
Wie schaffen Sie es, sich von den Grausamkeiten, die Sie recherchiert haben und über die Sie schreiben, emotional abzugrenzen?
Im Laufe der Zeit habe ich da meine Techniken entwickelt. Inzwischen weiß ich: Laptop zuklappen und Spazierengehen! Wenn ich Bewegung bin, dann lösen sich Knoten.
Waren Sie überrascht, dass Ihre ersten beiden Bücher solche Bestseller geworden sind – obwohl die Themen alles andere als leicht sind?
Ich hatte beim Schreiben von „Gretchen“, meinem ersten Buch, ein sicheres Gefühl, dass sich diese Arbeit lohnt, sonst hätte ich bestimmt nicht so viel Zeit investiert und meine gesamten Ersparnisse aufgebraucht. Aber natürlich habe ich mit so einem Erfolg nicht gerechnet. Als das Buch 2021 mitten in der Corona-Zeit herauskam, habe ich kalte Füße bekommen und war froh, dass als erstes die Kehler Zeitung in meiner badischen Heimat darüber berichtet hat. Dem freien Buchhandel habe ich vor allen Dingen zu verdanken, dass ich diesen Weg gehen konnte.
Das ist ja auch insofern erstaunlich, dass man so oft hört, die Deutschen sollten endlich einen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit ziehen. Aber offensichtlich gibt es immer noch ein großes Bedürfnis der Menschen nach solchen Stoffen.
Ja. Interessanterweise sind Menschen aus allen Generationen daran interessiert. Auch junge, in der Schule den Holocaust und die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs hoch- und runterbeten mussten, und eigentlich genug von diesen Themen hatten, haben mir gesagt oder geschrieben, dass sie durch meine Bücher nochmal eine andere Sicht auf diese Zeit bekommen haben. Das freut mich sehr. Dass ich endlich die Themen, die mich schon immer bewegt haben - für die sich in meiner Filmemacherzeit jedoch niemand interessierte - endlich umsetzen kann, ist ein großes Glück. Und dass ich damit offensichtlich auch noch bei vielen Menschen etwas bewege, erfüllt und bereichert mein Leben.
Ticket-Verlosung
Susanne Abel arbeitete als Erzieherin und realisierte nach ihrem Filmstudium als Regisseurin zahlreiche Dokus für das deutsche Fernsehen. Ihr Romandebüt „Stay away from Gretchen“ erschien 2021 und ist ein Dauer-Bestseller. Sie lebt in Köln.
Ihren neuen Roman „Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104“ (dtv) stellt Susanne Abel bei der lit.Cologne Spezial vor. Am Freitag, 19. September, 19.30 Uhr, spricht sie darüber in der Kulturkirche in Nippes mit Joachim Frank, Chefkorrespondent dieser Zeitung. Wir verlosen 3 x 2 Tickets. Wenn Sie gewinnen möchten, schicken Sie bitte eine Mail mit dem Betreff „Susanne Abel“ und Ihren vollständigen Namen bis 19. September, 11 Uhr, an: ksta-kultur@kstamedien.de