Lee „Scratch“ Perry ist totSo lief sein letzter Auftritt in Köln

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Lee „Scratch“ Perry im Club Bahnhof Ehrenfeld

Köln/Kingston – Am Sonntag ist der legendäre Reggae-Produzent Lee „Scratch“ Perry in einem Krankenhaus in Jamaika gestorben. Er wurde 85 Jahre alt. Kurz zuvor war er nach vielen Jahren in der Schweiz in sein Heimatland zurückgekehrt. Vor allem seine Produktionen in den 1960er und 70er Jahren, etwa für Bob Marley & The Wailers und Max Romeo, veränderten die Musikgeschichte. Später arbeitete er unter anderem mit Paul McCartney und den Beastie Boys zusammen.

Bis zuletzt ging Lee „Scratch“ Perry auf Tour. In Köln trat er noch im April 2018 in Club Bahnhof Ehrenfeld auf. An dieser Stelle veröffentlichen wir noch einmal die Besprechung des Konzerts.

Blaue Kriegsbemalung

Der Prophet murmelt von Zigaretten, von deutschen Polizisten und von Jesus Christus. Seinen Bart hat er rot gefärbt, um seine Augen trägt er blaue Kriegsbemalung und überall, an Handgelenken und Ohrläppchen, am Revers seiner Uniformjacke und an seinem Mikrofon, baumelt bunter Tand, funkelt Silber. Am Rist seiner aufgerissenen, roten Sneaker hat er Taschenspiegel befestigt. Ob er damit in eine für uns Normalsterbliche unsichtbare Paralleldimension schielen oder etwaigen Tanzpartnerinnen unter den Rock gucken will, wer weiß das schon. 

Viele halten Lee „Scratch Perry für ein Genie, nicht zuletzt er selbst. Ebenso viele halten ihn für nicht zurechnungsfähig im Sinne des Gesetzes. Aber die meisten wissen, dass es sich hier nur um zwei Seiten einer Medaille handelt. Dass Lee „Scratch“ Perrys Genie eben darin liegt, die Linearität der sinnvollen Rede aufzubrechen und sie dem Wahnsinn anheimzustellen.

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Es gibt nur eine Handvoll Künstler, die die Musik des 20. Jahrhunderts ähnlich nachdrücklich beeinflusst haben.

Es ist ziemlich genau 50 Jahre her, da veröffentlichte der Jamaikaner seine erste Single, „People Funny Boy“, eine kaum verhüllte Schmähung seines vormaligen Arbeitgebers. Den zugleich schlaffen und aufreizenden Rhythmus identifizierte man bald darauf als Reggae. Und bevor Bob Marley ihn, kompromisslerisch verrockt, von der Karibikinsel aus in die ganze Welt trug, produzierte Perry seine bis heute besten Singles, „Duppy Conqueror“ und „Small Axe“. 

In Echokammern

Noch einflussreicher aber waren die B-Seiten, die sogenannten Dub-Versionen, die Perry von diesen und anderen Tracks in seinem selbst gebauten Black-Ark-Studio herstellte. Mit einfachster Technik aber größter Finesse löste er simple Lieder in der Säure des Irrsinns auf, fügte schreiende Babys oder Kuckucksuhren hinzu, zerstückelte Sätze zu Phrasen, Wörter, Klängen, schickte sie durch Echokammern und verteilte sie neu über die Laufzeit des Tracks. Aber Zeit spielte plötzlich keine Rolle mehr, sie verlor sich in endlosen Hallräumen.

Im Club Bahnhof Ehrenfeld ist es der Londoner Mad Professor, Dub-Produzent der zweiten Generation, der die weitschweifigen Nuschelreden des 82-Jährigen in widerhallende Gedankenblitze aufbricht und mit Bässen unterlegt, die sich anfühlen, als schwimme man noch als Embryo im Bauch der Mutter, die sich in hochschwangerer Pracht vor einem Tuba-Spieler aufgebaut habe.

Was der Prophet uns nun eigentlich sagen wollte, an diesem Frühlingsabend in Ehrenfeld, ist schwer zu sagen. Während der Mad Professor schon von der Bühne weg Schallplatten verkauft, die nicht im Handel zu haben sind, murmelt Lee „Scratch“ Perry unentwegt weiter in sein Mikrofon, als wäre er ein wirrer, weiser König Lear und der Backstage-Raum seine Heide. 

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