Lygia Pape in der Kunstsammlung NRWWunderbare Antwort auf den westlichen Chauvinismus

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Düsseldorf – Europa und Nordamerika haben sich schon immer gerne als die Wiege der Moderne gefeiert, die Kunstgeschichtsschreibung hat dazu nicht unerheblich beigetragen. So ist es umso erfreulicher, dass die Ausstellung „Lygia Pape. The Skin of ALL“ im Düsseldorfer K 20 nun die Gelegenheit bietet, mit dieser engen und chauvinistischen Sicht aufzuräumen. Zum Beispiel, gleich eingangs, mit dem wunderbaren Gemälde „Pintura“ von 1953, einem von insgesamt nur vier Ölgemälden der Künstlerin, das die Kunstsammlung NRW 2020 angekauft hat.

Auch in Brasilien formierten sich starke Avantgarden

Überhaupt, die Geometrien der Bilder und Zeichnungen, die Holzschnitte, Reliefs und beweglichen Papierobjekte, sie alle stimmen einen Ton an, der mit dem programmatischen Verzicht auf Gegenstand, Komposition und Hierarchie auch politisch sein wollte. Mit dem Ziel, einem gesellschaftlichen Wandel Ausdruck zu geben, hatte sich beispielsweise in Argentinien schon 1945 die Asociación Arte Concreto-Invención formiert. Der Bruch der konstruktiven, konkreten Kunst mit der bisherigen Kunstgeschichte sollte dem radikalen Neuanfang der Gesellschaft ein ebenso radikal neues Gesicht geben.

Ganz ähnlich formierte sich auch in Brasilien eine starke Avantgarde; dort hatten zudem zwei repressive Diktaturperioden (1937-1945 und 1964-1985) die Sehnsucht nach einer anderen Moderne befördert, nach kulturellem, urbanem und wirtschaftlichem Aufbruch. Die Linie und die Fläche als konstruktive Elemente, Farb- und Formkontraste, Balance, Bewegung, Licht und Schatten sind einige der Themen, die das Großstadtleben aufwarf. Gitter und sphärische Konstruktionen, stürzende Linien, netzartige Strukturen, flirrende optische Effekte, Farb- oder Farbflächenstudien entstanden als Teil der großen Erzählung einer urbanen Moderne. In der Kunst genauso wie in Architektur, Stadtplanung und Landschaftsgestaltung.

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Die brasilianische Malerin, Bildhauerin, Graveurin und Filmemacherin Lygia Pape (1927–2004) war von Anfang an dabei, war seit 1954 Mitglied der in Rio de Janeiro ansässigen Grupo Frente, einer Künstlergruppierung, die sich der konkreten Kunst und geometrischen Abstraktion verschrieben hatte und der etwa auch Lygia Clark (1920-1988) und Hélio Oiticia (1937-1980) angehörten. Die von Isabelle Malz sorgsam kuratierte Ausstellung dokumentiert so nicht nur die Bedeutung, die die abstrakten Strömungen des 20. Jahrhunderts für die Entwicklung der Kunst Lateinamerikas (jenseits des magischen Realismus) hatten. Sie zeigt ebenso deutlich, dass die gegenstandslose Kunst hier eine eigenständige und lebensfrohe Moderne begleitete. Und meist ging es dabei auch um ethische und sozialpolitische Fragestellungen.

Ab 1959 entwickelt sich die Gruppe in Richtung einer experimentellen Erweiterung des streng Konkreten. Mit dem Manifesto Neoconcreto wurde die aktive Beteiligung auch der Betrachterinnen und Betrachter eingefordert, von nun an sollten die Umgebung, Raum und Lebenswelt stärker einbezogen werden. 1961 löste sich die Gruppe auf, ihre Prinzipien der Teilhabe aber blieben aktuell.

In den 60er Jahren ging Lygia Pape mit der Kamera auf die Straßen

Bei der Performance „Divisor“, 1968/1990 im Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro, steckten Menschen ihre Köpfe durch Schlitze in einem großen weißen Tuch. Ganz zu Anfang waren es Kinder, die spielerisch das Tuch eroberten, verschiedene Dinge damit anstellten und dann schließlich einen kollektiven Körper schufen. Ein sehr mächtiges Bild für das, was Lygia Pape vorschwebte: „Die Haut von ALLEN: glatt, leicht wie eine Wolke: ungebunden.“

Die Künstlerin bewegt sich mit ihrer Kamera nun immer häufiger im Stadtraum, untersucht die Architekturen in den Favelas, besucht und filmt die Straßenhändler, den Karneval, beobachtet Kakerlaken und Ameisen, dichtet. Vor allem ihre Super 8-Filme lassen erkennen, wie vielfältig und umfassend die Interessen der Künstlerin waren. Einer der Filme der Düsseldorfer Schau zeigt die Künstlerin (oder eine andere Person) bei der Performance „O ovo“ (1967), wie sie am Strand von Barra da Tijuca aus einem quadratischen Ei schlüpft. Der um ein hölzernes Gestell gespannt dünne Plastikfilm reißt beim herausschälen, mit wechselnden Personen fand die Aktion an verschiedenen Orten im Stadtraum statt.

Die jüngste Arbeit der Ausstellung, „Ttéia 1C“, 2001/2022, ist eine wundervolle Rauminstallation aus straff verspannten silbernen Fäden, Holz, Nägeln und Licht, die auf ältere architektonische Konzepte zurückgreift. Sie verändert die dunkle Umgebung in einen poetischen Lichtraum, der sich mit der eigenen Bewegung stetig verändert und dabei immer wieder andere Blickachsen und Lichtsensationen heraufbeschwört. Ein wahrhaft poetisches Erlebnis.

Lygia Pape. The Skin of ALL, Kunstsammlung NRW K 20, Düsseldorf, bis 17. Juli 2022.

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