Marilyn MansonWenn Kunst nur vom Missbrauch ablenken soll

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Marilyn Manson

Marilyn Manson 2015 bei einem Auftritt in Köln

Los Angeles – Natürlich habe man ihn als Sündenbock gewählt, sagt Marilyn Manson, bürgerlich Brian Hugh Warner, in „Bowling for Columbine“, Michael Moores Dokumentarfilm über einen Schulamoklauf: „Weil ich das repräsentiere, wovor jeder Angst hat, weil ich sage und tue, was ich will.“

Das war 2002. Jetzt werfen gleich fünf Frauen, allen voran die Schauspielerin Evan Rachel Wood („Westworld“), dem Schockrocker schweren Missbrauch vor: unter anderem körperliche Gewalt, Todesdrohungen, Vergewaltigung. Manson streitet die Vorwürfe ab, doch die Öffentlichkeit hat im Zuge der MeToo-Bewegung gelernt, dass man in Fällen, in denen mächtige Männer sexuellen Zwang ausüben, im Zweifel dem Opfer glauben darf: Seine Plattenfirma hat die Zusammenarbeit beendet, ebenso seine Künstleragentur; zwei TV-Serien, in denen Manson kleinere Auftritte hat, kündigten an, diese herauszuschneiden.

Das ist richtig gehandelt und doch ein bisschen scheinheilig: Evan Rachel Wood hatte bereits 2016 in einem Interview mit dem „Rolling Stone“ erzählt, dass ein früherer Partner sie vergewaltigt habe. Sie nannte damals keinen Namen, aber jeder wusste, wen sie meinte.

Autobiografie beschreibt Missbrauch

Und hat sich Marilyn Manson – der Künstlername setzt sich aus dem ikonischsten Sexsymbol und dem gefürchtetsten Massenmörder der USA zusammen – nicht im Laufe seiner Karriere immer wieder genüsslich selbst inkriminiert? Bereits 1998 legte der Rockstar eine Autobiografie namens „The Long Hard Road out of Hell“ vor, in dem er detailreich etliche Szenen offenkundigen Missbrauchs an weiblichen Fans beschreibt.

Wird er später auf diese Passagen angesprochen, beschreibt er sie mal als Akte, die im Einvernehmen mit den betroffenen Frauen geschehen seien, mal beruft er sich darauf, dass die Grenzen zwischen Fantasie und Realität für ihn nicht gelten, dass er – im Stil des Grand Guignol – übertrieben habe. Mit dem gleichen Argument verteidigt er später die Aussage, er habe nach der Trennung von Wood jeden Tag darüber fantasiert, ihren Schädel mit einem Vorschlaghammer einzuschlagen.

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Letzteres klingt wie eine besonders lahme und verachtenswerte Entschuldigung, aber sie steht in einer langen künstlerischen Tradition der Drastik. Nur zwei Jahre vor dem berüchtigten Buch hatte sich Manson mit dem Album „Antichrist Superstar“ als offizieller Gottseibeiuns besorgter Eltern etabliert: Alles an ihm – die Kostüme, die Auftritte und Videos, die Gewaltfantasien in den Texten und der harsche, gleichwohl mitreißende Metal- und Industrialsound – war auf eben diesen Effekt hin kalkuliert.

Zugleich erlaubte dieses Verstörungsprogramm Brian Warner, ein paar unbequeme Wahrheiten in die Welt zu setzen, die Erziehungsberechtigte ihren Kindern gemeinhin lieber verschwiegen. Mit anderen Worten: Manson hat für die letzten Jahre des 20. Jahrhunderts jene Rolle übernommen, die Alice Cooper Anfang der 70er gespielt hatte, Jerry Lee Lewis in den 50ern, oder Arthur Rimbaud in den 1870ern: Er zelebriert das Böse und Abseitige als Befreiung von der korrupten Moral der Altvorderen.

Obszöne Kunstwerke

Wurde nicht so gut wie jedem großen Kunstwerk der vergangenen 250 Jahre Obszönität oder Amoralität vorgeworfen? Von Goethes Selbstmord-Eloge „Die Leiden des jungen Werthers“ über Marcel Duchamps zum „Brunnen“ umfunktioniertem Urinal, bis hin zu Bret Easton Ellis’ Roman „American Psycho“, der just in jenem Zeitraum in Deutschland als jugendgefährdend indiziert war, als Manson seine größten Erfolge feierte.

Jeder Schüler lernt, dass man Werk und Autor fein säuberlich zu trennen habe. Das ist schon deshalb unerlässlich, weil man sonst nicht versteht, dass „American Psycho“ eine Radikalkritik des ungebremsten Kapitalismus der 1980er ist und stattdessen Bret Easton Ellis für einen kannibalischen Axtmörder hält.

Das Werk als Feigenblatt

Was aber, wenn das transgressive Werk als Feigenblatt der realen Überschreitungen seines Autors dient? Wenn etwa Mansons Video zu seinem Song „Running to the Edge of the Word“, in dem er eine knapp bekleidete Frau, deren Äußeres an Evan Rachel Wood erinnert, in einem Badezimmer blutig schlägt, keine provokante Kunst (oder wenigstens Unterhaltung) ist, sondern eine direkte Gewaltandrohung, millionenfach über Youtube vervielfältigt?

Dann hat entweder Brian Warner seine Alben und Videos als großes „Gaslighting“-Projekt angelegt, also als psychische Manipulation seiner Opfer, oder man muss die ganze Sache mit der Trennung von Autor und Werk noch einmal neu überdenken. Nicht im moralischen, aber im strafrechtlichen Sinn.

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