Mithu Sanyal„Ich will nicht vor Sexualität beschützt werden“

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Die Autorin Mithu Sanyal schaut in die Kamera.

Mithu Sanyal,

Die Autorin Mithu Sanyal („Identitti“) über einen biblischen Fall von MeToo, sexuelle Gewalt und die Gefahr eines neuen Puritanismus. 

Frau Sanyal, am kommenden Donnerstag diskutieren Sie im Kölner Wallraf-Richartz-Museum über die Susanna-Ausstellung, die einen biblischen Fall von sexueller Nötigung behandelt. Der Rechtsfall wurde schon in der Bibel eindeutig entschieden. Wo sehen Sie trotzdem noch Diskussionsbedarf?

Mithu Sanyal: Die Ausstellung spiegelt die Art und Weise, wie wir als Gesellschaft über solche Fälle sprechen. Also etwa die Vorstellung, wie sich Opfer von Vergewaltigungen zu verhalten haben, um als „echtes Opfer“ wahrgenommen zu werden, oder dass wir glauben, die Täter seien immer männlich und die Opfer immer weiblich. Was ja nicht stimmt. Der öffentliche Diskurs über Vergewaltigungen ist sehr stark gegendert und liefert uns gleichzeitig sehr viele Informationen über Geschlechterrollen.

Was ist das Besondere bei Susanna?

Im christlichen Susanna-Stoff geht es um eine Geschlechtsehre, die bei Frauen klassischerweise im Körper verortet, während sie bei Männern im öffentlichen Leben, etwa dem Schlachtfeld oder dem Beruf verhandelt wurde. Also konnte auch nur Frauen diese Ehre durch eine Vergewaltigung geraubt werden. Das englische Wort „rape“ kommt von der germanischen Wortwurzel Raub. In vielen Vergewaltigungsdiskursen wurde damals zunächst gefragt: Hatte die Frau überhaupt eine Ehre, die ihr gestohlen werden konnte? Sexarbeiterinnen waren davon etwa ausgeschlossen, ebenso wie nicht-weiße Frauen. Daher kommt auch unsere Vorstellung vom „richtigen“ Opfer, die vor Gericht ihre Ehrbarkeit nachweisen muss, indem sie zeigt, wie sehr sie unter der Vergewaltigung leidet. Da wird die Frau als Tatort begutachtet. Das gibt es so in keinem anderen Rechtsfall.

Wir sollten vielleicht die Ratgeber-Bücher über Beziehungen in den Müll schmeißen
Mithu Sanyal

Susanna wurde im Christentum über Jahrhunderte als sittliches Vorbild gepriesen. Heute würden wir Ihre Passivität eher problematisch sehen. Sie passt perfekt ins Geschlechterklischee und muss von einem Mann gerettet werden, in dem sich der göttliche Wille zeigt.

Was Susanna tut oder lässt, ist ihre eigene Entscheidung, darüber sollte man nicht richten. Aber als Vorbild ist sie tatsächlich problematisch. Wir haben Susannas Passivität nicht nur in den Diskursen über Vergewaltigungen verallgemeinert, sondern auch in unseren Vorstellungen von sexuellen Geschlechterrollen. Die neuen Sexualwissenschaften bestimmten im 19. Jahrhundert: Der Mann ist sexuell aktiv, die Frau hat keinen Sexualtrieb. Das finden wir schon in den Susanna-Bildern. Auf ihnen ist Susanna vor allem keusch, aber es gibt keinen weiblichen sexuellen Antrieb, sie ist sich ihrer Sexualität kaum einmal bewusst.

Die Vorstellung vom Mann als Eroberer und der Frau als Beute gibt es in vielen Kulturen. Wie entkommen wir diesen Geschlechterrollen?

Gute Frage. Vielleicht, indem wir die ganzen Ratgeber-Bücher in den Müll schmeißen, in denen Frauen, die einen Mann finden wollen, immer noch geraten wird: Machen Sie nicht den ersten Schritt. Oder melden Sie sich nach dem ersten Sex drei Tage nicht, sonst nehmen sie den Männern die Freude an der Jagd. Wir lernen in solchen Bücher, uns zu verstellen, Männer übrigens auch. Denen wird gesagt, ihr müsst immer den ersten Schritt machen. Das ist ja auch unfair.

Auf Massimo Stanziones Gemälde „Susanna und die beiden Alten“ sieht man zwei ältere Männer, die eine kaum bekleidete Frau bedrängen.

Massimo Stanziones „Susanna und die beiden Alten“ (um 1630/35)

Klingt nicht sehr ermutigend.

Wenn man liest, was unter dem Hashtag MeToo publiziert wurde, denkt man, jede sexuelle Begegnung ist gefährlich und kann sofort zu Grenzüberschreitungen führen. Dabei laufen die meisten sexuellen Begegnungen super. Wir sind ja durchaus in der Lage, miteinander zu kommunizieren. Aber für die Situationen, in denen das schiefläuft, haben wir kein Repertoire. Ein solches zu schaffen, ist eine gesellschaftliche Aufgabe, zum Beispiel durch sexuelle Früherziehung. Das heißt nicht mehr, als Kindern beizubringen, dass ihnen ihr Körper selbst gehört und sie ein Recht auf ihren Körper haben. Sie müssen lernen, nein zu sagen. Aber das geht nur, wenn sie auch ja sagen können. Es ist gut, dass wir in Deutschland ein hohes Bewusstsein für mögliche Grenzüberschreitungen haben. Aber gleichzeitig berühren wir Kinder immer seltener, an Schulen etwa, aus Furcht, eine Grenze zu überschreiten. Dabei läuft das Lernen bei Kindern viel über Körperkontakt. Und wir hatten schon vor Corona ein Berührungsdefizit.

Ist die MeToo-Debatte auch ein Re-Import des Puritanismus? Viele Begriffe und Themen wurden in den USA geprägt.

Durch die MeToo-Debatte wurde ein öffentlicher Raum geschaffen, in dem Opfer über ihre Erfahrungen reden und davon ausgehen können, dass ihnen geglaubt wird. Das ist ein ganz wichtiger Schritt. Zugleich ist die Sorge vor amerikanischen Verhältnissen berechtigt. In den USA gibt es teils absurde Entwicklungen, etwa ein Alkoholverbot bei Weihnachtsfeiern. Mitunter hatte die US-Debatte den Unterton: Wir müssen Frauen vor Sexualität schützen. Doch ich will nicht vor Sexualität beschützt werden, ich will sexuelle Selbstbestimmung.

Man schützt also auch Frauen, indem man Empathie für Männer aufbringt
Mithu Sanyal

Wie steht es um diffuse Begriffe wie toxische Männlichkeit oder Machtmissbrauch. Liegt deren Unschärfe in der Natur der Sache?

Der Begriff toxische Männlichkeit kommt ursprünglich aus der Männerforschung und dreht sich dort um die Frage, wie sich Geschlechterrollen auf Männer auswirken. Also: Was passiert, wenn schon kleine Jungs darauf gedrillt werden, die eigenen Gefühle zu unterdrücken? Am Ende steht dann eine Vergiftung nach innen. Heute wird der Begriff dagegen so verstanden, dass Männlichkeit die Gesellschaft vergiftet. Das bedeutet, dass im Kontext von Verwaltigungsprävention Männer hauptsächlich beigebracht wird, keine Grenzen bei anderen zu überschreiten. Während, wenn es um die Grenzen von Männern geht, sagen wir: Ach reiß dich zusammen, ein Indianer kennt keinen Schmerz. Aber wenn wir unsere eigenen Grenzen wahrnehmen dürfen, fällt es uns viel leichter, Grenzen von anderen zu erkennen und zu respektieren. Man schützt also auch Frauen, indem man Empathie für Männer aufbringt.

Sie schreiben in ihrem Katalogbeitrag zur Susanna-Ausstellung, dass rigide Moralvorstellungen den Missbrauch von Macht begünstigen. Aber hören wir in Sachen MeToo nicht vor allem aus Milieus, die sich ihrer lockeren Sitten rühmen?

Die MeToo-Debatte wurde zwar durch den Fall Harvey Weinstein ausgelöst. Aber die statistische Wahrscheinlichkeit, Oper sexueller Gewalt zu werden, ist ja nicht am Arbeitsplatz am größten, auch wenn der in Hollywood liegt. Sondern zu Hause, in der eigenen Familie. Auch im Militär oder im Gefängnis ist sie außergewöhnlich hoch. Im Kultur- und Sportbereich gibt es sicherlich Subsysteme, die anfällig für Grenzverschiebungen sind, weil dort, wie beim klassischen Tanz, ganz hart gegen den eigenen Körper gearbeitet wird und die Toleranz für Grenzüberschreitungen höher ist.

Während in der Susanna-Geschichte die Rollen von Täter und Opfer klar definiert sind, werden sie in der Malerei, bis hin zum „victim blaming“, oftmals verwischt. Entspricht diese Neigung vielleicht auch einer Alltagserfahrung, in der eindeutige Urteile eher die Ausnahme sind?

Vor allem ist das Susanna-Motiv eine wunderbare Entschuldigung dafür, mit voyeuristischem Blick auf diesen weiblichen Körper zu schauen. In der Bibel ist Susanna nicht nackt, sondern hat gerade erst ihre Dienerinnen weggeschickt, um die Badesachen zu holen. Das ist auch deswegen interessant, weil Vergewaltigungen in der Populärkultur oft wahnsinnig sexualisiert werden. Bis in die 1980er Jahre war die Vergewaltigung nicht selten der erotische Höhepunkt eines Films, denken Sie nur an „Marnie“ von Alfred Hitchcock, da läuft es einem kalt den Rücken herunter. Die Uneindeutigkeit vieler Susanna-Gemälde finde ich hingegen beinahe angenehm. Das Opfer muss nicht rein wie eine Lilie sein. Auch unkeusche oder böse Menschen haben ein Recht darauf, von sexueller Gewalt verschont zu bleiben.


Die Düsseldorfer Autorin Mithu Sanyal wurde mit ihrem Roman „Identitti“ bekannt, davor hatte sie bereits mit Sachbüchern über sexuelle Gewalt und die Vulva für Aufsehen gesorgt. Am 26. Januar nimmt Sanyal an einem prominent besetzen Podiumsgespräch im Kölner Wallraf-Richartz-Museum über die aktuelle Susanna-Ausstellung und deren Beitrag zur MeToo-Debatte teil.

„Susanna und die Alten… Meister II: Die Podiumsdiskussion“, mit Mithu Sanyal, Dominik Meiering, Klaus Theweleit, Patricia Engel und Marina Weisband. 26. Januar, 19 Uhr, Stiftersaal im Wallraf-Richartz-Museum, Köln. Eintritt: 4 Euro.

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