Mülheimer TheatertageWarum Kultautor Rainald Goetz die Kleinfamilie hasst

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Frau und Mann sitzen in Biedermeier-Kostümen auf einer Bank in der Kulisse von Claudia Bossards „Baracke“-Inszenierung am Deutschen Theater Berlin. Hinten steht zwischen ihnen ihr Kind in einem Glaskasten. Die Frau trägt einen roten Ball über ihren Kopf, der Mann ein blaues Dreieck, das Kind einen gelben Legostein-Quader.

Szene aus der Uraufführung von „Baracke“ von Rainald Goetz mit der nun die Mülheimer Theatertage eröffnet wurden.

In Mülheim an der Ruhr wurden am 4. Mai die 49. Theatertage eröffnet. Gesucht wird das beste deutschsprachige Stück des Jahres.

„Irre, Krieg, Hirn, Kontrolliert“, hebt Mareike Beykirch an, „Mix, Cuts & Scratches, Rave, Abfall für Alle.“ Bevor die Uraufführung von „Baracke“, dem neuen Stück von Rainald Goetz, anfangen kann, bevor Beykirch – blond, burschikos, schneidend – die Rolle der jungen Ostdeutschen Bea übernimmt, wird Kassensturz gemacht. Die Schauspielerin zählt die Titel des Goetz'schen Werks von 1983 bis heute auf und in der Reihung klingen sie selbst wie ein sprechbarer Goetz-Text, wenn auch zerhackt aufs Allernotwendigste.

Seit 1976 küren die Mülheimer Theatertage den besten deutschsprachigen Theatertext seines jeweiligen Jahrgangs. Goetz hat den Dramatikerpreis bislang dreimal gewonnen – Platz zwei hinter Elfriede Jelinek, die viermal ausgezeichnet wurde, wenn man es sportlich betrachten will.

Rainald Goetz hat dreimal den Mülheimer Dramatikerpreis gewonnen

Obwohl der Wahlberliner zwischen 1998 und 2020 kein dramatisches Werk veröffentlicht hat, steht er doch prototypisch für einen deutschen Theatersound, den der „Stücke“-Wettbewerb maßgeblich mitgeprägt hat: Gegen plotlastiges Erzählen, für sperrige, mitreißende Textflächen als Materialsammlung und Herausforderung an die Regie. Die „Stücke“ haben oft neue Dramatik-Stars hervorgebracht – Werner Schwab, Dea Loher, Rimini Protokoll – aber darunter herrscht große Kontinuität.

Die spiegelt sich zum Beispiel darin wider, dass der Chefredakteur der maßgeblichen Fachzeitschrift „Theater heute“ nicht nur seit vielen Jahren im Auswahlgremium der Theatertage sitzt, sondern diesmal auch – als einzige Doppelbesetzung – in der Jury, die anschließend unter sieben nominierten Stücken den Preis vergibt. Mit anderen Worten: man köchelt im eigenen Brei.

Heißt das heiratswillige Paar etwa mit Nachnamen Zschäpe und Mundlos?

Die 49. Theatertage konnten im Guten wie im Schlechten keinen passenderen Auftakt finden, als das Gastspiel von Claudia Bossards bildgewaltiger „Baracke“-Inszenierung am Deutschen Theater Berlin. Die versetzt das Drama in ein (einem Zwischentitel entliehenen) Museum des 21. Jahrhunderts, stellt neo-empfindsame Paarfindungs-Sitten, neubürgerliche Familienhölle und neonazistische Umtriebe nebeneinander, die hier auf fruchtbaren Boden treffen. Heißen Bea und Uwe, die ihre eigene Neurosen-Keimzelle gründen, mit Nachnamen etwa Zschäpe und Mundlos? Boy trifft Girl und bringen zusammen Menschen mit Migrationshintergrund um? Oder haben sich diese beiden nur dieselbe Jugendzentrums-Baracke (und Weltanschauung) mit den Mördern geteilt?

„Alle Gewalt geht von der Familie aus“, poltert Goetz. Prompt wurde ihm zum Vorwurf gemacht, längst widerlegte, oder zumindest ausdifferenzierte Thesen aus linken Revoluzzerkreisen aufzuwärmen. Auch Claudia Bossard hadert mit dem widerspenstigen, forsch überfordernden Text, mit den groben Schnitten zwischen Familien- und NSU-Terror. Als die Schweizer Regisseurin geboren wurde, hatte sich Rainald Goetz längst publicityträchtig beim Bachmannpreis die Stirn blutig geritzt. Hier treffen nun also völlig unterschiedliche Generationen aufeinander und beim anschließenden, in Mülheim an der Ruhr obligatorischen Publikumsgespräch gibt sie unumwunden zu, keine Goetz-Spezialistin zu sein, ja Jelinek zu bevorzugen. Hauptdarstellerin Beykirch ergänzt frech, dass der Autor am Haus vor allem von männlichen Kollegen ab 45 abgefeiert worden sei. Der bekennende Jugend- und Technofetischist feiert in wenigen Tagen seinen 70. Geburtstag. Irre.

Aber mit dem Alter kommt der Blick für die großen Zeitläufte – nicht zu vergessen: Der promovierte Arzt ist auch promovierter Historiker – und für jene Kontinuitäten, die jede Generation immer erst dann entdeckt, wenn es mal wieder zu spät ist, noch irgendetwas zu ändern, wenn es sich die Gewalt bequem gemacht hat im Gesellschaftssystem. Und Bossard befeuert diese Spiegelungen und Überblendungen der Geschichte mit einem Dauerfeuer aus GIFs von grinsenden Populisten und Familienaufstellungen im Biedermeier-Kostüm.

Die eigentliche Aufgabe bestünde darin, sagt Bossard beim Publikumsgespräch, einen so Collage-artigen Text in einen Flow zu bringen. Und Rainald Goetz – der sich mündlich nicht zum eigenen Text äußern will und statt auf dem Podium in der ersten Reihe Platz genommen hat – nickt dazu im stummen Einverständnis.


Die Mülheimer Theatertage finden noch bis zum 25. 5. statt. Das Programm finden Sie hier

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