Musical-Klassiker in Düsseldorf„West Side Story“ versetzt ins New York der 50er Jahre

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WESTSIDE STORY, DUESBURG, 2022, Credit: Johan Persson

„West Side Story“ kann mit exzellenten Kostümen und dynamischem Ensemble begeistern.

Der Musical-Klassiker „West Side Story“ bleibt ewig aktuell. Lonny Price ist mit einer Neuinszenierung im Düsseldorfer Capitol-Theater.

Irgendwie, irgendwann, irgendwo, fantasieren Tony und Maria, gäbe es einen Ort und eine Zeit für sie. Der Bühnenprospekt funkelt rot-golden, nach und nach tritt das junge Ensemble der „West Side Story“ in beinahe weißen, pastellfarben angehauchten Kostümen auf die leere Bühne. Jets und Sharks gehen lächelnd aufeinander zu. Es ist ein Idiotenparadies, ein typischer Fall magischen Denkens.

Allein, wer kann es dem Liebespaar übel nehmen? Bevor Tony zu Maria ins Bett schlüpfte, hatte er ihren Bruder Bernardo erstochen – nachdem dieser Tonys besten Freund Riff ein Messer in den Bauch gerammt hatte. Dabei wollte der frisch verliebte Tor doch eigentlich Frieden stiften zwischen den verfeindeten Banden, den Kindern von Polen und Puerto-Ricanern, die sich um ein kleines Stückchen Straße streiten, in Ermangelung besserer Zukunftsaussichten.

Die immerwährende Aktualität der „West Side Story“

Solange die Utopie von „Somewhere“ nicht eingelöst wird, bleibt die „West Side Story“ ewig aktuell. Das ist fast ein Fluch. Und auch ein Segen, wenn man die fantastische Neuinszenierung des Broadway-Routiniers Lonny Price betrachtet, die durch Deutschland und die halbe Welt tourt und derzeit im Düsseldorfer Capitol-Theater Halt macht. Denn es ist jedes Mal ein großes Glück, diesen unverwüstlichen Musical-Klassiker wieder erleben zu dürfen, der 2023 seinen 65. Geburtstag feiert.

WESTSIDE STORY, DUESBURG, 2022, Credit: Johan Persson

Maria und Tony sind das tragische Liebespaar der „West Side Story“.

Zuletzt waren aus Anlass der Spielberg’schen Neuverfilmung in den USA neue Cancel-Diskussionen hochgeschwappt. Dass die Genies hinter der „West Side Story“ – Choreograf Jerome Robbins, Komponist Leonard Bernstein, Dramatiker Arthur Laurents und Texter Stephen Sondheim – weiße Männer waren, die glaubten, für eine hispano-amerikanische Minderheit zu sprechen, lässt sich ja nicht leugnen. Einerseits. Andererseits kann kein Stoff Jahrzehnte auf der Bühne überdauern, ohne problematisch zu werden.

Allemal schwieriger, als sich den kulturellen Aneignungen des Stoffs zu stellen – und sei es nur durch ein angemessen diverseres Ensemble – ist sowieso der Erwerb einer Aufführungslizenz, schließlich muss man sich mit den Erben von vier Schöpfern einigen. Dementsprechend vorsichtig fallen die Aktualisierungen aus. Und es will ja auch niemand ernsthaft etwas an Musik, Lyrics oder den ikonisch-athletischen Tänzen verändern.

Lonny Prices Inszenierung von „West Side Story“ wirkt filmisch

Was Lonny Prices Inszenierung von allen bisherigen Versionen unterscheidet, ist das, was man heute „Worldbuilding“ nennt, die ersten Zuschauer der „West Side Story“ mussten sich die späten 1950er Jahre in den USA nicht erst vorstellen, Price erschafft diese inzwischen doch weit entfernte Glanzzeit des amerikanischen Jahrhunderts noch einmal neu: Seine Bilder sind weniger abstrakt und sehr viel filmischer (hier helfen vor allem die historisch akkuraten und zugleich sprechenden Kostüme Alejo Viettis) als die früherer Inszenierungen.

Auch wer beim Tanz in der Turnhalle oder während des fatalen Messerkampfes in dritter Reihe steht, weiß noch genau, was er zu spielen hat, und die Dialoge der Hauptdarsteller gehen in den hyperrealistischen Kulissen so nahtlos in Gesang über, als wäre das die normale Kommunikationsform im verslumten Westen New Yorks.

Westside Story 2022, Duesburg, Germany Credit: Johan Persson

Die Kulisse dient bei der Inszenierung von Lonny Price zusätzlich als Choreografie-Bestandteil.

Dass die Dynamik dabei trotzdem kaum verloren geht, ist auch das Verdienst der Bühnenbildnerin Anna Louizos, die aus den berühmten Backsteinfassaden und Feuertreppen der „West Side Story“ bewegliche, aufklappbare und auf mehreren Ebenen bespielbare Puppenhäuser mit beleuchteten Innenräumen entworfen hat.

Im Düsseldorfer Capitol werden die Kulissen Teil der Choreografie

Ihr Set betont die eigene Künstlichkeit: Die Kulissen bleiben – von den Darstellern hin- und hergeschoben, auf und wieder zu gefaltet – ständig in Bewegung, sie sind Teil der Choreografie. Und ebenso Sinnbild für die prekären Lebensverhältnisse, die Menschen erst dazu bringen, nach einem Sündenbock für ihre Perspektivlosigkeit zu suchen.

Das von Grant Sturiale dirigierte 20-köpfige Orchester kommt besonders gut in den dynamischen Tanznummern wie dem „Jet Song“ und dem „Dance at the Gym“ zur Geltung. Kyra Sorce ist eine ebenso agile wie spitzzüngige Anita, ein aufgeweckter Kontrast zu Jadon Websters verträumten Tony, weniger ein eigenständiger Charakter, als die Verkörperung der Liebe selbst und ihrer naiven Herausforderung des Ist-Zustands.

Seine Maria muss stark für zwei sein und es tat gut zu sehen (und zu hören), wie viel Kraft ihr Michel Vasquez verlieh, die am Dienstag für die erkältete Hauptdarstellerin Melanie Sierra coverte. Der tragische Schluss wirkt dann tränentreibend wie eh und je, für den Frieden muss erst die Liebe sterben. Die Welt ist schlecht, aber nirgends wird das so mitreißend erzählt wie in der „West Side Story“. Verpassen Sie die bloß nicht!


„West Side Story“ ist noch bis zum 1. April im Düsseldorfer Capitol Theater zu sehen. Karten unter www.capitol-theater.de

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