Kay Voges will die gesamte Kölner Bevölkerung ins Schauspiel holen, enger mit Journalisten zusammenarbeiten und so die Demokratie stärken.
Neuer Schauspiel-Intendant Kay Voges„Theater ist eine friedenserhaltende Maßnahme“

10.07.2025, Köln: Ein Gespräch mit Kay Voges, bevor er seine Schauspiel-Intendanz antritt. Foto: Arton Krasniqi
Copyright: Arton Krasniqi
Herr Voges, die Vorbereitungen für Ihre erste Spielzeit laufen auf Hochtouren. Was proben Sie gerade?
Zuerst eine Woche lang „Imagine“, jetzt Jon Fosses „Der Name“. Da müssen drei große Rollen umbesetzt, drei neue Kollegen eingearbeitet werden. Nach den Ferien sind wir damit beim Fosse-Festival in Oslo eingeladen. Im Volkstheater haben wir das im großen Haus gespielt, in Köln werden wir das im Depot 2 zeigen. So ein Riesenbühnenbild stand da schon lange nicht mehr drin. Aber so nah dran zu sein wie im Depot 2, ist natürlich auch toll.
Tatsächlich eröffnen Sie aber mit „Imagine“ …
Das war aufregend, da kamen zu den Proben rund 35 Menschen zwischen 22 und 67 zusammen, die sich alle noch nicht so richtig kannten. Das sind tolle Leute, mit unglaublichem Potenzial und großem Erfahrungsreichtum, ob vom Thalia-Theater oder vom Burgtheater oder von der Schaubühne oder aus München. Es gibt verschiedene Stile, verschiedene Kompetenzen. Ich bin jetzt schon verliebt. Wir waren alle aufgeregt wie am ersten Schultag. Jetzt wollen wir mal gucken, wie wir aus dieser Gruppe von hervorragenden Individualisten ein gutes Team machen können. Man kennt das aus dem Fußball: Es ist nicht unbedingt der Verein, der am meisten Geld und die meisten Superstars hat, der am erfolgreichsten spielt, es ist die Teamleistung, das Konzept, die Spielidee und auch die Grundhaltung. Wir haben uns auch über unsere 96 Thesen unterhalten …
… die tatsächlich nur 26 sind!
Noch! Das ist Work in Progress. Theater muss als Gegenwartskunst immer wieder neu definiert werden. Wie haben sich die Zeiten geändert? Und wie muss das Theater darauf reagieren? Meine Idee für „Imagine“ war, ein großes Ensemblestück zu machen, mit dem die Menschen in dieser Stadt das neue Ensemble kennenlernen können. Der erste Gedanke war, ob man nicht anhand von Peter Handkes Stück „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“ über die Welt und die Gegenwart erzählen könne. Dann bin ich über den Song von John Lennon und Yoko Ono gestoßen, „Imagine“, und dachte mir, es wäre doch spannend, einen Theaterabend zu machen, der um das Vorstellen geht, aber auch um die Vorstellung, im Sinne der Theatervorstellung. Da sind wir schnell bei der Frage, inwieweit erst unsere Vorstellung Welten erschafft. Der Abend spielt in einem kleinen Dorf, in dem 20 Menschen zusammenleben.
Was passiert dort?
Während der eine sich gerade ein Auto kauft, liegt der andere im Sterben und der dritte verliebt sich. Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse ist scheinbar wahllos, aber dann gibt es doch eine Erzählung, die etwas über unsere Interpretation von Welt verrät. Die Themen unserer Zeit werden dort alle angesprochen. Krieg und Frieden und die Frage, wie wir mit dem Fremden umgehen wollen? Wie lebt es sich in einer Welt, die immer teurer wird? Das soll den Boden bilden, für das, was in den nächsten fünf Jahren kommen wird, eine Auseinandersetzung mit unserem Hier und Jetzt, in Köln, Deutschland, Europa und der Welt.
Als Neu-Intendant muss man ja sowieso mit der Behauptung anfangen: Ich mache euch hier ein Theater, das eure Welt abbilden kann, also kommt bitte zu mir.
Die ganze Welt abzubilden, das kriegen wir nicht hin. Aber wir können ein Sinnbild unserer Wirklichkeit oder einen Ausschnitt davon zeigen. Und da will ich schon meinem Auftrag nachkommen, ein Theater für die gesamte Stadt, für alle Altersgruppen zu machen, ob arm, ob reich, ob türkischer Herkunft oder deutscher, ob mit hoher oder niedriger Bildung. Ich wünsche mir, dass dieses Theater ein Ort wird, an dem die Stadtgesellschaft zusammenkommen kann, um gemeinsam die Welt zu reflektieren. Wir haben Kirchen, wir haben Parteien, wir haben Fußballvereine, aber wo gibt es denn den Ort, wo die Stadtgesellschaft zusammenkommen kann, um gemeinsam Zeit und Raum zu teilen, ohne dass da irgendwelche Zugehörigkeiten vonnöten sind?
Aber kommt im Theater nicht immer nur dieselbe bildungsbürgerliche Blase zusammen? Wie öffnet man das für alle anderen?
Wir versuchen, unsere Themen so zu wählen, dass sie möglichst viele Leute betreffen. Zum Beispiel, wenn wir jetzt über Krieg sprechen. Wie stehen wir zu Waffenexporten? Zu Militärdienst? Oder wenn wir über den Aufstieg und Fall von René Benko berichten, dann sind auch die Menschen gemeint, die bei Galeria Kaufhof einkaufen oder arbeiten. Oder Steuern gezahlt haben, damit Galeria Kaufhof gerettet wird. Wir reden über die Schuldenbremse und die Generationenverschuldung oder bei „Dat Wasser vun Kölle es jot“ davon, warum unser geliebter Vater Rhein im Sommer zu einem Drittel nur aus Abwasser besteht. Und wenn wir ein Requiem für eine marode Brücke aufführen, können wir vielleicht gemeinsam ein bisschen lachen und darüber sinnieren, was man denn tun müsste, für die Utopie einer besseren, einer besser funktionierenden Stadt. Es geht auch um die Mittel, mit denen wir erzählen. Wir wollen Begegnungen jenseits der Bühne schaffen. Das Schauspiel Köln wird sich weiter verzweigen, um noch mehr Menschen zu erreichen.
Ein mündiges Volk ist ein Volk, das Komplexität aushalten kann und versteht
Aber wie?
Wir haben mit dem Stream von „Geheimplan gegen Deutschland“, dem Theaterstück von Correctiv, 1,5 Millionen Menschen erreicht. Da bekommt Theater noch mal eine andere Relevanz. Das möchte ich fortsetzen. Theater hat es derzeit schwer. Für die AfD stellt ein kulturaffines, gebildetes Publikum eine Gefährdung dar. Selbst konservative Medien fangen an, die Notwendigkeit von Kultur infrage zu stellen. Das ist wahnsinnig gefährlich, ein unkultiviertes Volk ist ein gefährliches Volk. Von den fünf Prozent Verteidigungsausgaben jährlich müssten wir eigentlich einen Teil einfordern, als Kulturinstitution. Wir versuchen Empathie und Zusammenhänge zu entwickeln, die uns zu einem denkenden, klugen Volk machen. Das ist eine friedenserhaltende Maßnahme. In solchen Umbruchzeiten, wie wir sie gerade erleben, ist der Ort der öffentlichen Debatte, des Zusammenkommens, des Reflektierens wichtiger denn je.
Weshalb Sie das Schauspiel auch als Medienhaus begreifen wollen?
Der Journalismus hat ein Problem. Es gibt einen Wettkampf um Lautstärke. Wer schafft es, mit seiner Meldung ganz nach vorne zu kommen? Wer schafft es, die grellste Headline zu machen? Was keine Konjunktur hat, ist das Tiefe, Differenzierte, Komplexe. Journalisten tun sich gerade schwer damit, große, tiefe Recherchen zu verkaufen. Ein mündiges Volk ist aber ein Volk, das Komplexität aushalten kann und versteht. Populismus heißt dagegen, möglichst polemisch, eindimensional, unterkomplex zu empören.
Und wie kann Theater da helfen?
Ich glaube, wenn sich Theater und Journalismus zusammentun, könnte etwas Neues passieren. Wir im Theater können Raum und Zeit geben, sind die Erzählexperten. Und dann gibt es die Menschen, die diese Recherchen unternommen haben. Der Kampf gegen den Populismus, für unsere humanistischen Grundordnungen, das ist ein wichtiges Anliegen. Wir wollen weder die schnelle Polemik noch die dumme Betroffenheitserzählung. Wir wollen, dass man klüger aus dem Theater herauskommt als man reingeht. Aber das ist nur ein Teil des Angebots. Wir haben ja zum Beispiel auch Herbert Fritsch, das wird wild und wahnsinnig und dadaistisch frei.
Theater steht selbst unter Rechtfertigungszwang. Besonders in Köln, weil die Menschen statt von den Inhalten zuerst von den Milliarden für den Offenbachplatz reden …
Ich glaube, dass diese Erzählung von 1,5 Milliarden per se falsch ist. Es sind knapp 800 Millionen, das ist die Summe, die die Sanierung am Offenbachplatz kostet. Auch das ist eine Katastrophe, aber wir müssen nicht noch mehr draufpacken, damit es noch katastrophaler klingt. Ich hoffe, die Kölnerinnen und Kölner sind klug genug zu verstehen, dass nicht jede Inszenierung am Offenbachplatz den Beweis für die Baukosten abliefern muss. Wir könnten auch erzählen, dass wir es als Bürgerinnen und Bürger der viertgrößten Stadt Deutschlands verdienen, einen Ort der Gemeinschaft für unsere Stadtgesellschaft zu haben.
Und die Aufregung um verschenkte Socken und Gin-Stände, um verschwendete Steuergelder?
Ich würde mir wünschen, man nähme den Rechenschieber und schaute mal, was denn eigentlich passiert ist? War das steuerrechtlich wirklich ein Verbrechen? Dann kann man vielleicht auf dieser rechtlichen Ebene die Debatte führen. Sonst klingt es so, als wäre der liebevolle Kölner heimlich ein Schnösel, der genau guckt, ob der eine ein bisschen Krümel mehr auf dem Teller hat als er selbst. Vielleicht profitieren gerade diejenigen von solchen Meldungen, denen die Kunst und das freie Denken ein Dorn im Auge sind.
Die vielen Premieren Ihrer ersten Spielzeit haben Sie eigentlich für den Offenbachplatz geplant. Mich wundert, dass Sie die jetzt trotzdem alle im Depot durchziehen. Das ist bewundernswert, aber warum tun Sie sich den Stress an?
Weil wir hier nach Köln kommen, um uns für die Menschen in dieser Stadt den Arsch aufzureißen. Wir meinen es ernst. Wir werden für ein gutes Programm alles geben. Es sind 29 Premieren, das ist wahnsinnig viel. Es sind aber auch einige Übernahmen aus Wien und anderen Städten dabei, die wir hier als Kölner Premieren zeigen. Mir ist es wichtig, am Anfang ein großes Spektrum aufzumachen.
Im Gegensatz zu Wien haben Sie in Köln keine Konkurrenz auf gleicher Ebene …
Genau, in Wien waren wir ein Schauspielhaus von vieren und konnten uns stärker spezialisieren. Deswegen machen wir in Köln ein breites Angebot. Wer einen Klassiker auf der Bühne sehen möchte, der wird genauso bedient wie der, der sich eine Komödie, einen musikalischen, philosophischen oder experimentelleren Abend wünscht. Diese Vielfalt soll aber kein Kessel Buntes sein, alle Inszenierungen eint die Liebe zur Kunst und die Frage „Wie erzählen wir über unsere Zeit heute?“.
Einige Menschen haben sich darüber aufgeregt, dass „Die Lücke“ nicht weitergespielt wird. Sie fürchten, dass mit Blick auf den Offenbachplatz die enge Verbindung zur Keupstraße verloren geht.
Wir haben laut, mit großen Lettern geschrieben: Das Schauspiel Köln ist antifaschistisch. Wir stehen Seite an Seite mit den Menschen von der Keupstraße. Und wir werden überlegen, wie es 13 Jahre nach der Premiere von „Die Lücke“ weiter gegangen ist. Ich finde, das braucht einen weiteren Teil, eine Weitererzählung. Wie geht es den Menschen jetzt, wo immer noch keine Gedenkstätte gebaut worden ist und zugleich Worte wie „Remigration“ hoffähig werden? Den Menschen, die fragen, warum hast du das abgesetzt, möchte ich sagen: Habt ein bisschen Geduld, empört euch nach 100 Tagen, wenn ihr ein paar Sachen gesehen habt.
Eine andere Absage, über die sich empört wurde, ist die des Britney-X-Festivals.
Die Entscheidung habe ich vor fast zwei Jahren getroffen und da muss ich sagen: Ich habe das falsch eingeschätzt. Ich verstehe, dass es in Zeiten, in denen sich für die queere Community vieles zum Schlechten gewandelt hat, in denen große Sponsoren beim CSD abspringen und die Bundesregierung die Existenz des dritten Geschlechtes infrage stellt, keinen guten Geschmack hat, wenn ein Stadttheater so ein Festival absetzt. Deswegen werden wir das Britney-X-Festival weiterführen.
Wie fühlen Sie sich bislang von der Kölner Politik behandelt? Gab es schon erste Enttäuschungen?
Ich bin sehr glücklich über den Kulturausschuss, wie kulturaffin und wie parteienübergreifend da diskutiert wird. Das ist ein Niveau, das für deutsche Städte nicht selbstverständlich ist. Ich kriege natürlich mit, was der Haushalt dieser Stadt zu stemmen hat. Wie schaffen wir es, unter diesen Bedingungen bunt, frei, vielfältig und sozial gerecht zu bleiben? Es ist ein großes Haus, eine große Stadt und es ist nicht gerade die Phase, wo das Geld auf der Straße liegt. Umso lauter müssen wir als Schauspiel werden, damit niemand an uns vorbeigucken kann und auf die Idee kommt, man müsste jetzt, wo der Hausbau so teuer war, den Inhalt des Hauses reduzieren. Das wäre das Schlimmste, was passieren könnte.
Kay Voges (53) wurde in Düsseldorf geboren. Von 2010 bis 2020 war er Intendant am Schauspiel Dortmund. In dieser Zeit wurde das Haus bei der alljährlichen Kritikerumfrage der Fachzeitschrift „Theater heute“ dreimal hintereinander auf Platz 2 in der Rubrik „Bestes Theater“ gewählt.
Seit der Spielzeit 2020/21 leitete er das Volkstheater Wien. Daneben arbeitet Voges aber auch immer an anderen Häusern, etwa am Berliner Ensemble, wo er die „Correctiv“-Recherchen zu rechten Treffen in Potsdam als szenische Lesung auf die Bühne brachte.
Zur Spielzeit 2025/26 hat er die Intendanz des Schauspiel Köln übernommen. Er startet seine erste Spielzeit mit der Uraufführung von „Imagine“ am 26. September im Depot 1 des Schauspiels. Alle Termine finden Sie hier.