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Neues Buch von Judith Hermann„Literaturkritik muss man wahrhaftig überleben“

Lesezeit 6 Minuten
Judith Hermann steht vor einer Tapete mit rot-goldenen Ornamenten.

Schriftstellerin Judith Hermann

Judith Hermann hat ein Buch über das Schreiben und Verschweigen geschrieben und ist dabei auch ihrem literarischen Zaubertrick auf die Spur gekommen. 

Vor 25 Jahren erschien Judith Hermanns Erzählband „Sommerhaus, später“ – ein Debüt, das gleich ein internationaler Erfolg wurde. In ihrem neuen Buch „Wir hätten uns alles gesagt“ denkt die Autorin nun über ihr Schreiben und ihr Leben nach – genauso poetisch wie in ihren Romanen und Erzählungen. Ein Gespräch über die Magie von Geheimnissen und die Schattenseiten des frühen Ruhms.

Frau Hermann, in Ihrem neuen Buch schreiben Sie über Ihr Schreiben. Der Text ist ursprünglich für die Frankfurter Poetikvorlesungen entstanden. Wie war es für Sie, öffentlich über Ihre Arbeit nachzudenken?

Judith Hermann: Im täglichen Leben bin ich ziemlich versessen darauf, Zusammenhänge herzustellen, Begründungen zu formulieren - ich fürchte, das ist für meine direkte Umgebung manchmal sehr anstrengend, es hat fast etwas Obsessives. Beim Schreiben ist es genau andersherum, ich versuche, so intuitiv, so einfach wie möglich zu schreiben. Ein großer Teil des Schreibens ist eher inaktiv, es ist vor allem Nachdenken, Zögern, Abwägen. Wenn ich mich an den Schreibtisch setze, tauche ich, um es vereinfacht auszudrücken, ab. Ich versuche, die bewusste Haltung den Dingen gegenüber zu vergessen. Das Schreiben der Poetikvorlesung war neu - es war der bewusste Versuch, sich unbewusste Abläufe anzusehen.

Haben Sie dadurch selbst einen anderen Blick auf Ihr Schreiben gewonnen?

Mir ist mein Schreiben ein wenig näher gekommen, ja. Ich habe begründen können, warum ich eigentlich auf Leerstellen bestehe, warum es mir so wichtig ist, Dinge zu verbergen, sie nicht konkret zu benennen. Als würde ich mich auf einen komplizierten Zaubertrick focussieren, mir seine Mechanik noch einmal genau ansehen, bevor ich ihn vorführen kann. Durchaus riskant, aber auch beglückend.

Mir ist mein Schreiben ein wenig näher gekommen
Judith Hermann

Zauberer verraten ihre Tricks ja eigentlich nicht. Hatten Sie keine Angst, dass sie damit etwas kaputt machen?

Die Balance zwischen dem Zeigen und dem Ablenken vom Gezeigten zu halten - das war das Risiko, genau. Wichtig war das Vorlesen, diese Tatsache, dass ich den Text zunächst nur vorgelesen habe, es gab kein Manuskript, das den Zuhörern zur Verfügung gestanden hätte. Der Text gehörte mir, und er blieb beim Vorlesen bei mir. Hätte ich während des Schreibens darüber nachgedacht, dass es am Ende doch ein wirkliches Buch geben würde, hätte ich sicher anders geschrieben. Letztlich war die Arbeit ein Experiment.

Nicht alles offenbaren, für sich bleiben wollen – ein ungewöhnlicher Anspruch im Zeitalter Sozialer Medien.

Ich behalte meine Zweifel und Skrupel tatsächlich lange für mich, bis ich sie dann auspacke und mit anderen bespreche, und vielleicht sind mir die sogenannt Sozialen Medien auch wegen dieser Haltung so fremd geblieben. Ich möchte über alle Probleme, alle Entäußerungen mindestens drei Nächte lang schlafen dürfen. Was ich vermisse, ist das Gegenwärtige, das Vorübergehen von Tagen, an denen es keinen Kontakt mit der Wirklichkeit gibt, ich vermisse auf eine sehr kindische Weise eine kleine, eine begrenzte und heile Welt. Aber für dieses Vermissen gibt, es glaube ich, keine Rechtfertigung mehr. Die Welt ist begrenzt, weil sie im übertragenen und im Wortsinn brennt, weil alles, was wir tun und getan haben, seine schweren Konsequenzen aufzeigt.

Ende der 1990er Jahre erschien Ihr erster Erzählungsband “Sommerhaus, später”, der ein großer Erfolg war. Andere Zeiten, in denen wir noch nichts wussten oder wissen wollten von Pandemie und Krieg und Klimakrise...

Die Gegenwartsliteratur muss sich viel dringlicher mit den politischen Fragen und den Weltthemen auseinandersetzen, als die Literatur der 90er Jahre, sie hat keine Wahl. Die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar schreibt, die Welt sei eine Hölle, sie habe nur in den 90ern, den frühen 2000er Jahren eine Pause gemacht. Ich habe die Vorlesung während der Lockdowns der Pandemie geschrieben. Nach der Pandemie hat der Krieg in der Ukraine begonnen, und er wird mein Schreiben in einer Weise beeinflussen, von der ich jetzt noch nichts weiß. Er ist eine Zäsur.

Können Sie Bücher lesen, während Sie selbst schreiben?

Ich lese die ganze Zeit. Aber wenn ich schreibe, kann ich keine Gegenwartsliteratur lesen, erst rechte keine deutsche Gegenwartsliteratur, sie würde mich ablenken, verunsichern, komplett aus der Spur bringen. Also lese ich Klassiker während des Schreibens oder Autoren, die wirklich sehr weit weg sind von dem, was ich versuche. Und Gegenwartsliteratur in den Zeiten, in denen ich mich frage, wie ich weiter schreiben will.

Es ist etwas Eigenartiges an der Dominanz und anhaltenden Kränkung eines Verrisses
Judith Hermann

Nach Ihrem überwältigendem Erfolg mit Sommerhaus, später“ Ende der 1990er gab es auch immer mal wieder Verrisse. Wie gehen Sie mit solchen Kritiken um? 

Literaturkritik muss man wahrhaftig überleben. Es ist etwas Eigenartiges an der Dominanz und anhaltenden Kränkung eines Verrisses, ein einziger Verriss hat so viel mehr Wucht als zehn gute Rezensionen. Ich würde sagen, dass ich am Ende aus Verrissen auch gelernt habe, aber ich glaube gar nicht, dass das die Absicht des jeweiligen Kritikers gewesen ist. Es gibt die Möglichkeit, Kritiken nicht zu lesen. An und für sich nicht - die schlechten nicht, die guten aber auch nicht. Ich möchte es gerne so halten.

Ihre Bücher sind in sehr viele Sprachen übersetzt worden. Haben Sie das Gefühl, dass Sie dort ähnlich gelesen und wahrgenommen werden wie in Deutschland?

Ich glaube, die ausländischen Verlage schicken mir eher die guten Besprechungen und verschonen mich mit den schlechten und da ich außer Englisch keine Fremdsprache spreche, bleibt vieles ungenau. Aber es gibt im Ausland eine grundsätzliche Freundlichkeit mir gegenüber, die man auch ein freundliches Desinteresse nennen könnte - ein Desinteresse jedenfalls an meiner privaten Person, an den Zusammenhängen und Interna des deutschen Literaturbetriebs, den Erfolgsgeschichten und Koppelungen an Fernsehsendungen wie das Literarische Quartett. Kein Fräuleinwunder, keine Zuordnungen. Das hat etwas sehr Erleichterndes.

Ich hätte gerne mehr und länger geschrieben, ohne gelesen zu werden, es ging alles plötzlich so schnell.
Judith Hermann

Empfinden Sie Ihre Geschichte als Autorin, die schon mit dem Debüt einen ungewöhnlichen Erfolg hatte also auch als belastend?

Ich empfinde den Erfolg, den „Sommerhaus, später“ gehabt hat, noch immer als ein großes Geschenk. Ich habe letztlich Zeit geschenkt bekommen - viel Zeit für meine Arbeit und Zeit für meine Zögerlichkeit. Und auf der anderen Seite war der Erfolg von Anfang an eine große Belastung, habe ich mich einem diffusen Erwartungsdruck ausgesetzt gesehen, bis heute fühle ich mich immer wieder wie eine Hochstaplerin. Ich hätte gerne mehr und länger geschrieben, ohne gelesen zu werden, es ging alles plötzlich so schnell. Aber das Schreiben an der Poetikvorlesung war ein wenig so, wie das Schreiben des ersten Buches. Ein Dialog mit mir selber, zunächst mit niemandem sonst. Ziemlich - ja, frei?

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihr Debüt „Sommerhaus, später“ erschien 1998. Es wurde ein großer Erfolg und erscheint jetzt – 25 Jahre später – in einer Sonderausgabe, gleichzeitig zu ihrem neuen Buch „Wir hätten uns alles gesagt“ (beide S. Fischer), in dem sie über ihr Schreiben und ihr Leben nachdenkt, über Wahrheit und Erfindung – genauso poetisch wie in ihren Romanen und Erzählungen.

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