Terroranschläge in ParisEmmanuel Carrère über unerträgliches Leid und tröstliche Nähe

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Prozess um die Anschläge vom 13. November in Paris Emmanuel Carrère - Der Prozess um die Anschläge vom 13. November in Paris wird vor dem Strafgerichtshof fortgesetzt. Dabei geht es um die Anschläge vom November 2015, bei denen am 27. Juni 2022 im Stade de France in Saint-Denis, in Bars, Restaurants und in der Konzerthalle Bataclan in Paris, Frankreich, 130 Menschen getötet wurden. Das Ende einer langwierigen Anhörung, nach zehnmonatigen Debatten. Im Prozess um die Anschläge vom 13. November hat das Pariser Strafgericht am 27. Juni 2022 ein letztes Mal den Angeklagten das Wort erteilt und berät nun. Die Urteilsverkündung wird für den 29. Juni 2022 erwartet.

Autor Emmanuel Carrère (r.) im Gespräch mit einem Prozessteilnehmer

Mit „V13“ hat der französische Star-Autor Emmanuel Carrère ein Buch über den großen Terrorprozess von Paris geschrieben. Unsere Kritik.

In die Vorhalle des Palais de Justice auf der Île de la Cité hat man eine weiße Sperrholzkiste gebaut, 45 Meter lang und 15 Meter breit. Hier soll den Mitgliedern und Komplizen jener belgischen Terrorzelle der Prozess gemacht werden, die für die Anschläge vom 13. November 2015 in Paris verantwortlich ist. 131 Menschen wurden ermordet, 683 verletzt, eine Nation traumatisiert.

Auch die Opfer sollen zu Wort kommen, als Nebenkläger. Diejenigen, die überlebt und auch jene, die im Bataclan oder auf den Terrassen des 10. Arrondissements Kinder, Partner, Freunde verloren haben. Neun Monate sind für die Verhandlung im fensterlosen Kasten angesetzt (am Ende werden es zehn sein).

Der Autor Emmanuel Carrère hat sich vorgenommen, jeden Tag dabei zu sein. Er hat den „Nouvel Observateur“ selbst um diesen Auftrag gebeten. Will Zeitzeuge sein. „V13“ nennen die, die sich tagtäglich im weißen Kasten begegnen, die Verhandlung. Das „V“ steht für „vendredi“, die Terroristen hatten ihre Attentate an einem Freitag, den 13. verübt.

Emmanuel Carrère hat ein erschütterndes und zugleich tröstendes Buch geschrieben

„V13“ hat Carrère auch das Buch auf der Basis seiner Zeitungskolumnen genannt, ein erhellendes, erschütterndes und zugleich tröstliches Zeitdokument. Emmanuel Carrère gilt als Meister der Autofiktion. Einer, der tief in sich hineinzuhorchen vermag. Ein Narziss, vielleicht, aber einer, der in einen zersplitterten Spiegel blickt und schonungslos beschreibt, was er da sieht. Zuletzt konnte man ihn in seinem Roman „Yoga“ auf einem Höllenritt von der Meditationsklausur in die geschlossene Psychiatrie begleiten.

Es ist gerade dieses Talent zur „inneren Kampfkunst“, um einen Begriff aus „Yoga“ zu verwenden, das den Blick des Autors für seine Mitmenschen öffnet. Egal, ob es sich um Opfer oder Täter, um Staatsanwalt oder Verteidiger handelt, er hält sein Urteil in der Schwebe, bringt uns den Beteiligten so nah, als säßen wir selbst in der weißen Sperrholzkiste.

Offen ist er, aber nicht naiv: Der Hauptangeklagte Salah Abdeslam ist der einzige Überlebende der Attentäter. Weil der Sprengstoffgürtel nicht gezündet, oder — seine Darstellung — er im letzten Moment einen Sinneswandel durchgemacht hatte. Carrère kauft ihm die vorgeschützte Tiefgründigkeit nicht ab, ebenso wenig die Aussage seines ersten Anwalts, Abdeslam habe „das Hirn eines leeren Aschenbechers“.

Prozess um die Anschläge vom 13. November in Paris Emmanuel Carrère - Der Prozess um die Anschläge vom 13. November in Paris wird vor dem Strafgerichtshof fortgesetzt. Dabei geht es um die Anschläge vom November 2015, bei denen am 27. Juni 2022 im Stade de France in Saint-Denis, in Bars, Restaurants und in der Konzerthalle Bataclan in Paris, Frankreich, 130 Menschen getötet wurden. Das Ende einer langwierigen Anhörung, nach zehnmonatigen Debatten. Im Prozess um die Anschläge vom 13. November hat das Pariser Strafgericht am 27. Juni 2022 ein letztes Mal den Angeklagten das Wort erteilt und berät nun. Die Urteilsverkündung wird für den 29. Juni 2022 erwartet.

Der weiße Kasten, der für den Terrorprozess in die Vorhalle des Pariser Justizpalastes gebaut wurde.

„Auf mich“, schreibt Carrère, „wirkt er eher wie ein kleines Würstchen, das sich in seine Widersprüche verstrickt hat: ein strenger Muslim, aber auch ein Partyboy, ein Fanatiker, der aber auch an seinem kleinen, beschaulichen Leben hängt ...“

Die Annahme, man müsse ein hundertprozentiger Überzeugungstäter sein, um solche Gräueltaten zu vollbringen, kann nach „V13“ nicht aufrechterhalten werden. Die kurze Ansprache über Syrien, die einer der Terroristen im Bataclan hielt, habe auswendig gelernt geklungen, erinnert sich eine Zeugin, als sei ihm das völlig egal: „Das Einzige, was sie interessiert hat, war, auf uns zu schießen.“

Carrère stellt die Berichte der Überlebenden mit großer Genauigkeit, aber ohne Sensationsgier zusammen. Ein Meer von Blut, tellergroße Wunden, Konfetti aus Fleisch, das Fliehenden in den Haaren steckt — das alles ist mit dem Wissen um die Wurstigkeit der Mörder umso schwerer zu ertragen.

Als Abdeslam den Überlebenden unverfroren dazu gratuliert, dass ihr Leid sie zu besseren Menschen gemacht habe, stellt ihm Carrère eine Opfer-Aussage entgegen: Die Angst gehe nicht mehr weg, nicht das Trauma, nicht das schlechte Gewissen, überlebt zu haben: „Ich kämpfe weiter, aber eigentlich habe ich lebenslänglich gekriegt.“

Carrère vergisst auch nicht die kleinen Geschichten neben dem Fettgedruckten. Die Angst der Opfer von den Restaurantterrassen, vergessen zu werden. Die Formeln, mit denen Versicherungen Entschädigungen für Traumata berechnen. „Gerichtsreportage“ hat er seinen Text untertitelt, am Ende wird das Buch zur Feier des Rechts.

Die weiße Kiste, schreibt Carrère, erinnerte ihn an eine moderne Kirche, in der man „einen einzigartig geteilten Moment voller Entsetzen, Mitleid, Nähe und Präsenz“ erlebt habe.

Emmanuel Carrère: „V13: Die Terroranschläge in Paris“, Matthes & Seitz, 275 Seiten, 25 Euro

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