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Paul Verhoeven mit „Benedetta“ in CannesSkandalerotik hinter Klostermauern

Lesezeit 4 Minuten

Virginie Efira in der Hauptrolle von „Benedetta“

Cannes – Tausend Journalisten sollen dieses Jahr fehlen an der Croisette, aber bemerkt ist jemand? Die verbliebenen 3000 sorgen allemal für das typische Gewimmel. Allein das Abfragen von Impf- oder Testbescheinigungen sichert imponierende Schlangen auch abseits der Gala-Vorstellungen.

Fraglos fehlen jene Kino-Pessimisten, die den Untergang ihrer Lieblingskunst schon vor der Pandemie durch den Siegeszug von Netflix besiegelt sahen. Nun hat man im Vorort La Bocca sogar einen neuen Filmpalast eröffnet. Knapp vier Kilometer vom Festivalzentrum glänzt das Cineum Imax, ein mit neuester Lasertechnik und 513 beweglichen Stühlen ausgestattetes High-End-Kino.

Blechtrommel statt Gehry

Die dekonstruktivistische Metallfassade von Star-Architekt Rudy Ricciotti erinnert an Frank O. Gehrys Walt Disney Concert Hall in Los Angeles. Doch wenn man aus den früheren Festivalgewinnern nach einem Spitznamen für das Theater suchte, wäre es wohl „Die Blechtrommel“. Dass der US-Imax-Konzern nicht unbedingt für anspruchsvolles Festivalprogramm bekannt ist, soll in diesen Tagen, wenn das offizielle Programm auch über diese 23-Meter-Leinwand flimmert, nicht kümmern. Ohnehin hat es bereits am dritten Tag den Weg ins Populäre und ins Genre-Kino eingeschlagen.

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Der niederländische Veteran des Edel-Trash, Paul Verhoeven, übernimmt es, die Skandalkatze aus dem Sack zu lassen. Kurz vor seinem 83. Geburtstag präsentiert der Regisseur von „Türkische Früchte“ und „Basic Instinct“ seinen ersten Klosterfilm – wenn man einmal von „Show Girls“ absieht, der einen Strip-Club fast wie eine Stätte religiöser Rituale zelebrierte.

„Benedetta“ ist die Verfilmung von Judith Cora Browns Biographie „Schändliche Leidenschaften: das Leben einer lesbischen Nonne in Italien zur Zeit der Renaissance“. Die Idee stammte vom Drehbuchautor Gerard Soetman, der seinen Namen während der Vorproduktion wegen zu deutlicher Sexualisierung aus dem Nachspann streichen ließ. Das wäre kein Vorwurf, mit dem man Verhoeven schrecken könnte. Wann immer sich in der radikalen Jesus-Liebe der historischen Figur aus dem 17. Jahrhundert eine erotisierende Inszenierung entwickeln lässt, ist eine ästhetisierende Nacktszene mit Hauptdarstellerin Virginie Efira nicht weit. Und wenn Benedetta dann von der Novizin Bartolomea (Daphné Patakia) in die Liebe eingeführt wird, wähnt man sich im 70er-Jahre-Softporno. Schließlich wird ein Inquisitor nach dem symbolträchtigen Corpus Delicti fahnden: einer zum Dildo umgeschnitzten Marien-Statue.

Verhoeven weiß, was er tut

Noch ist die Voyeurismus-Debatte nicht vergessen, die hier 2013 ein Regisseur mit einem Gewinnerfilm entfachte, der lesbische Sexualität ästhetisierte. Aber „Blau ist eine warme Farbe“ von Abdellatif Kechiche ist viel bedeutender als „Benedetta“. Warum also sucht Cannes einen so vorhersehbaren Skandal, wenn man ein Problem mit der geringen Repräsentanz von Filmemacherinnen hat? Was man Verhoeven lassen muss: Er weiß, was er tut. Der Voyeurismus-Vorwurf kümmert ihn wenig, das Ziel seiner Provokation ist die latente Sexualisierung des Jesus-Kults und die Ikonografie des Nonnenfilms.

Und da macht er zweifellos einen Punkt: Hollywood liebte es, attraktive Schauspielerinnen wie Audrey Hepburn zu Unschuldsikonen zu stilisieren. Deutlich orientierte sich Verhoeven am schwülfarbigen Ästhetizismus des wohl besten Klosterfilms, „Die schwarze Narzisse“ von Michael Powell und Emeric Pressburger. Hier ist wohl die Erklärung zu finden, wieso es dieses hemmungslose Stück Camp in den Wettbewerb schaffte: Es feiert die Macht das Kinos am Beispiel eines Genres, das für schwelgerische Scheinheiligkeit berüchtigt ist.

Formale Innovation ist woanders

Wirkliche formale Innovation konnte man in zwei anderen Beiträgen finden: Beide kamen von Regisseurinnen. Andrea Arnolds Dokumentarfilm „A Cow“ zeigt das Leben eines Rindes von der Geburt bis zum Ableben aus der Ich-Perspektive. Auch in ihren Spielfilmen machte die Britin impressionistische Naturaufnahmen zu einem Markenzeichen, nun gibt es wenig anderes. Es ist ein durchaus beglückender Film über die realisierbare Utopie einer humanen Landwirtschaft.

Und dann ist da noch die Französin Catherine Corsini, die sich einem verkannten Genre widmet. Ihr „La Fracture“ ist ein Krankenhausfilm, so dramatisch wie ein Kriegsfilm. Während einer von Polizeigewalt überschatteten Demonstration der Gelbwesten-Bewegung treffen in einem überfüllten Hospital verschiedene soziale Schichten aufeinander. Zentrale Figur ist eine von der kaum fehlbaren Valeria Bruni Tedeschi gespielte Comic-Verlegerin, die sich zwischen den Lagern wiederfindet. Doch das Ergebnis ist weniger versöhnliches Sozialdrama als -überdrehtes Feuerwerk – eine meisterhafte Regieleistung, die eine Jury kaum übersehen kann.