Perfektomat und der RetrogottKölner Musiker spielen gegen rechte Reinheitsgebote an

Lesezeit 4 Minuten
Die beiden Musiker Perfektomat alias Joscha Oetz und Retrogott alias Kurt Tallert vor der Kölner Skyline. Im Hintergrund erkennt man das Saturn-Hochhaus und den Mediapark. Oetz hält seinen Kontrabass.

Perfektomat alias Joscha Oetz und Retrogott alias Kurt Tallert

Bassist Joscha Oetz alias Perfektomat und Rapper Kurt Tallert alias Retrogott haben zusammen eines der besten Kölner Alben seit langem eingespielt 

Den Song „Wurzel Aus“ beginnt der Kölner Rapper Retrogott mit einem Zitat der französischen Philosophin Simone Weil: „Wer entwurzelt ist, entwurzelt auch andere. Wer verwurzelt ist, entwurzelt niemanden.“

Er hatte es in einem Interview mit Peter Handke gefunden, auf das ihn der Bassist Joscha Oetz, ebenfalls aus Köln, aufmerksam gemacht hatte. Wie nah sich der Jazzer, der unter dem Namen Perfektomat veröffentlicht, und der Hip-Hopper inhaltlich wie musikalisch gekommen sind, das kann man auf ihrem gemeinsamen Album „Zeit hat uns“ nachhören.

Auf der wachsen aus ihren gemeinsamen Wurzeln – „Jazz ist die DNA von Hip-Hop“, sagt Retrogott, bürgerlich Kurt Tallert – wundersame Blüten, mit Stacheln an den Stängeln, löcken gegen die „eiserne Instanz der breiten Akzeptanz“, wie es im Auftaktstück „Kapitalistische Verkürzungskritik“ heißt.

Diese harsche Abrechnung mit den hiesigen Zerrbildern der öffentlichen Meinung bettet Oetz in die von Laura Robles auf den Congas geschlagenen afro-peruanischen Rhythmen ein, aber auch in westafrikanische Highlife-Gitarren und mal fröhlich, mal wehmütig aufquellende Bläser.

Die Musik quert also mehrmals und in beide Richtungen den Schwarzen Atlantik. So wird die Kritik an den Verhältnissen tanzbar – wenn nicht gar die Tanzbarkeit längst Teil der Kritik an den, so Tallert, „starren identitären Diskursen ist“, die dieses Land vergiften. „Die Wurzel des Bösen ist der Glaube, dass das Böse eine Wurzel hat“ sprechsingt der Retrogott im Song „Nationalkulturalismus“.

Joscha Oetz hatte sich schon nach seinem Debüt, „The Loonators“ zur Jahrtausendwende gewünscht, mit Sprache zu arbeiten. Während eines Stipendiums in San Diego fand er dann mit den Able Minded Poets eine willige Spoken-Word-Crew. Anschließend lebte Oetz sieben Jahre lang in Peru, wo er für sein Projekt „Independencia“ zur 200-Jahr-Feier der Unabhängigkeit des Landes erneut mit MCs und Spoken-Word-Künstlern zusammenspielte.

Die Musik hat Joscha Oetz am Tag vor dem zweiten Lockdown eingespielt

„Jetzt kam in Köln diese Idee wieder auf“, erzählt der Bassist. Der Schlagzeuger Niklas Wandt empfahl ihm Kurt Tallert. Man verstand sich sofort: „Das war eindeutig, da konnte es gar keinen anderen geben.“ Tallert hatte Spanisch studiert und ein halbes Jahr in Chile gelebt, war dementsprechend „hispanophon-affin“, wie er sagt.

Das Ergebnis dieser Begegnung, am Tag vor dem zweiten Lockdown im Raderthaler Sendesaal des Deutschlandfunks eingespielt und später im Studio liebevoll und ausführlich bearbeitet, wirkt wie aus einem Guss, eine Konzeptplatte ohne fest gefügtes Konzept (und das sind ja bekanntlich die besten).

„Ich denke auch, dass die Platte geschlossen klingt, wie so ein Kosmos“, sagt Oetz. „Das ergibt sich daraus, dass wir uns jeweils treu bleiben, aber gleichzeitig Neuland betreten. Etwas, das es noch nicht gab, besteht ja immer aus Dingen, die vorher schon da waren.“ Wo wir von Neuland reden: Für den Titelsong hat sich Joscha Oetz zum ersten Mal selbst als Texter versucht: Die Zeile „Zeit hat uns“ hat er dem Roman „There There“ des First-Nation-Autors Tommy Orange entlehnt. So antwortet ein sterbender Onkel seinem Neffen, der ihn mit den Worten „Habe Mut, wir haben Zeit“ beruhigen will: „Nein - Zeit hat uns.“

Kurt Tallert wettert gegen Reinheitsgebote bei Menschen und Musik

Eine bittere Erkenntnis. Aber nur, wenn man sich gegen den tickenden Countdown der Lebenszeit hart macht, statt sich in seinem Rhythmus zu bewegen. Die Veränderung, das ewig Neue, ist uralt. „Was dagegen kulturgeschichtlich neu ist“, sagt Kurt Tallert, „ist die Idee des Nationalismus und dessen Reinheitsgebote, die dann bei Menschen ebenso greifen wie bei Musikarten.“

Perfektomat und der Retrogott setzen dagegen auf die Offenheit von Musiken, die von Anfang an hybride Stile waren, die von ihrer Grundoffenheit und Anschlussfähigkeit geprägt sind. „Ich hoffe, dass das, was wir da machen, etwas Universelles hat“, sagt Joscha Oetz.

Das hat es ganz bestimmt. „Zeit hat uns“ ist das relevanteste Album, das seit langer Zeit in Köln erschienen ist.

Auf Tommy Oranges Zeit-Pessimismus antwortet Kurt Tallert im Track „Wurzel Aus“ mit Heinrich Heines „Deutschland: Ein Wintermärchen“, zitiert dessen berühmte Charakterisierung der steifen, obrigkeitshörigen Deutschen: „Als hätten sie verschluckt den Stock/Womit man sie einst geprügelt.“

Unstrittene „Stammbaumanalyse“ der Stuttgarter Polizei

Und ergänzt das satirische Versepos um die Geschichte von der umstrittenen „Stammbaumanalyse“, mit der die Stuttgarter Polizei 2020 die Wurzeln von Verdächtigen nach Krawallen in der Innenstadt analysieren wollte, „als müsste da weiter nachgebohrt werden, obwohl die einen deutschen Pass haben“.

„Nach tausendjähriger Botanik knospt identitäre Panik“, deklamiert der Retrogott: „Sie wächst in sich selbst hinein, geradezu hermetisch.“ Wer wissen will, wie es anders geht, wie man ins Offene wachsen kann, der höre dieses Album.

„Zeit hat uns“ von Perfektomat und der Retrogott ist am 3. Februar beim Kölner Label ENTBS erschienen. Als Stream und auf Vinyl erhältlich.

KStA abonnieren