Phänomen OfflinerWarum 3,1 Millionen Deutsche noch nie im Internet waren

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Boris Becker in einem AOL-Werbespot im Jahr 2001, er liegt mit kurzer Hose und ärmellosen Shirt vor einem Laptop.

Er war schon drin: Boris Becker in einem AOL-Werbespot im Jahr 2001

Keine Facebook-Kommentare, Schuh-Reklamationen oder Instagram-Posen. Sind sie schon neidisch auf die Internet-Verweigerer? Unsere Prominent-verteidigt-Kolumne.

Lassen Sie uns heute nicht einen einzigen strauchelnden Prominenten verteidigen, sondern 3,1 Millionen Menschen, die zwar gänzlich unberühmt, dafür jedoch umso standfester sind. Und zwar jene fünf Prozent der Deutschen zwischen 16 und 74 Jahren, die nach Angaben, die das Statistische Bundesamt in dieser Woche veröffentlicht hat, noch nie das Internet genutzt haben.

Man Die Offliner. Wundersame Zeitgenossen, die noch nie eine Nachrichtenseite gelesen, oder einen Film gestreamt haben. Dafür aber auch niemanden mit Facebook-Kommentaren, Schuh-Reklamationen oder Instagram-Posen belästigt haben. Was sind das bloß für Menschen?

Unter den 16- bis 44-Jährigen finden sich laut Bundesamt immerhin noch zwei Prozent der konsequenten Draußenbleiber. Wie buchen sie ihre Urlaube, wie erledigen sie ihre Bankgeschäfte, ach, wie zum Teufel funktionierte das alles noch mal in analogen Zeiten? Und warum halten sich diese Menschen an solchen längst vergangenen Zeiten fest?

Warum halten 3,1 Millionen Deutsche an längst vergangenen Zeiten fest?

Spielen religiöse Gründe eine Rolle? Oder handelt es sich um eine neue Form von Maschinenstürmerei, bei dem eine unbeugsame Minderheit gegen die Verlockungen des Web ankämpft wie einst die Ludditen gegen mechanische Webstühle?

Im Netz, wo sonst, finde ich eine Schweizer Studie zu Offlinern, die unter den Internet-Verweigerern Splittergruppen wie Kulturpessimisten, Kapitalismusgegner, Romantiker, Paranoide oder auch – ganz schlicht – Verlierer identifiziert. Offlinern, heißt es dort, gehe es um Transparenz und Vielfalt, sie wollen der gesellschaftlichen Auflösung entgegenwirken.

Aber wenn selbst der Unabomber seine Blockhütten-Pamphlete über die Medien verbreiten ließ, wie wirkt man dann als Abgekapselte? Ich stelle mir die Offliner eher als eine schweigsame Minderheit vor. Als stille Verweigerer, die ganz höflich ihr „Ich möchte lieber nicht“ vor sich hinmurmeln, die ihren Freunden handschriftliche Briefe schicken, stundenlang telefonieren, einfach mal schauen, was gerade im Fernsehen läuft. Die zum Ticketschalter am Kaufhof fahren, so es noch einen Schalter gibt (oder einen Kaufhof), höflich nach Karten für das Taylor-Swift-Konzert fragen und nur ganz sanft enttäuscht wieder in ihr datenpaketfreies Zuhause fahren. Dann halt nicht. Was soll's.

Waren wir nicht alle glücklicher in den analogen 80er Jahren?

Lange Jahre war es mir gelungen, das Lied „Ein Stern (... der deinen Namen trägt)“ von DJ Ötzi und Nik P. nicht zu hören. Man musste nur bestimmte Orte, Radiosender und Menschen meiden, dennoch war ich einigermaßen stolz darauf. Aber das Internet bis zum Jahr 2024 kein einziges Mal zu nutzen? Da kann man so lange den Kopf schütteln, wie man will, am Ende nötigt allein der schiere Aufwand, den man betreiben muss, um zu leben wie vor 40 Jahren Respekt ab.

Und sogar ein wenig Neid. Waren wir nicht alle etwas glücklicher in den 1980er Jahren? Als die dümmsten Kommentare nicht über die Wirtshaustür hinausgingen? Waren wir nicht konzentrierter, gelassener, entschleunigter?

Die ehrliche Antwort lautet wahrscheinlich: nö. Das ist wie mit den Urlauben, die man hauptsächlich damit verbracht hat, sich gegenseitig anzukeifen. Zwei Wochen später sitzt man auf der Arbeit und denkt sich, Mensch, wie schön war's am Gardasee.

Das Internet ist letztlich auch nur das, was der Mensch daraus macht, das Internet trifft keine Schuld. Aber die Freiheit der 3,1 Millionen deutschen Offliner, die sollten wir verteidigen. Wo kämen wir denn hin, wenn es kein Gegenmodell zum voll vernetzten Leben mehr gäbe?

Für die Mehrheit der Menschen ist das Internet beinahe schon verschwunden, es hat sich in seiner stumpfen Alltäglichkeit vor unseren Augen aufgelöst. Offliner sehen zumindest in diesem Fall klarer. Vielleicht können sie uns ja verraten, was genau da falsch läuft. Kurz: wir sollten ihr Recht auf Unverbundenheit verteidigen. Zur Not mit einer Online-Petition.

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