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phil.CologneWie geht man damit um, dass alls immer schlechter wird?

Lesezeit 3 Minuten
Svenja Flaßpöhler und Andreas Reckwitz unterhalten sich auf der Bühne des Klaus-von-Bismarck-Saals im WDR-Funkhaus.

Svenja Flaßpöhler und Andreas Reckwitz im Gespräch auf der phil.Cologne

Philosophin Svenja Flaßpöhler und Sozialtheoretiker Andreas Reckwitz unterhielten sich auf der phil.Cologne über den Umgang mit Verlusten.  

Unsere Lebensbedingungen verschlechtern sich. Das ist kein gutes Gefühl, aber spüren tun wir es alle. Liegt es am Winner-takes-it-all-Kapitalismus? An den Folgen des Klimawandels? Der Überalterung sowohl der Gesellschaft als auch ihrer Infrastruktur? Oder an den Modernisierungsverlierern, die den Populismus vorantreiben, der wiederum zur Erosion der liberalen Demokratie führt? Und werden wir bald selbst, vielleicht dank KI, zu diesen Modernisierungsverlierern gehören?

Es sind, sagt Andreas Reckwitz, ganze Verlustkaskaden, die gegenwärtig über uns hereinbrechen. Der Sozialtheoretiker steht im Rahmen der phil.Cologne im Klaus-von-Bismarck-Saal des WDR der Philosophin Svenja Flaßpöhler Rede und Antwort. Er hat mit „Verlust“ (Suhrkamp Verlag) das große Buch zum Thema geschrieben. Das ist an sich schon eine gute Nachricht. Zum einen, weil Reckwitz mit seinen vorhergehenden Büchern zur „Gesellschaft der Singularitäten“ und zum „Ende der Illusionen“ bereits zwei erhellende Beiträge zur Krankengeschichte der Spätmoderne verfasst hat. Zum anderen, weil es bereits hilft, dass es jemand endlich einmal ausspricht: Wir müssen uns von der klassischen Fortschrittserzählung verabschieden.

Jeder Verlust ist auch eine Beschädigung der eigenen Identität

„Verlust“, das sei kein philosophischer Fachterminus, sondern ein Alltagsbegriff: Etwas, was da war, verschwindet. Aber nicht jedes Verschwinden, beschwichtigt Reckwitz, muss gleich ein Verlust sein. „Das Feudalsystem zum Beispiel vermisst niemand.“ Einen Verlust erfahre man erst, wenn Dinge, zu denen eine emotionale Bindung existiert, verschwinden. Insofern sei jeder Verlust auch ein Verlust des Selbst, eine Beschädigung der eigenen Identität. „Der Verlust der Fortschrittshoffnung, das ist, als ob jemand gestorben wäre.“

Zwar heiße Menschsein Verlust erfahren zu müssen – doch habe sich diese Erfahrung seit dem 18. Jahrhundert, mit der Aufklärung, der Industrialisierung und der Verwissenschaftlichung der Welt zugespitzt: Wir erwarten den Fortschritt, das Wirtschaftswachstum, die Geschichte als permanente Verbesserung der menschlichen Gesellschaft. Sind im Grunde – wie Svenja Flaßpöhler einwirft – alle Hegelianer. „Wir sind von Vorstellung geprägt, unser Leben sollte perfekt sein“, sagt Reckwitz, „und dann wird natürlich jeder Verlust zum Skandal.“

Wir sind von Vorstellung geprägt, unser Leben sollte perfekt sein. Dann wird natürlich jeder Verlust zum Skandal.
Andreas Reckwitz

So kann es nicht weitergehen, denn offensichtlich befinden wir uns am Ende der angeblich unendlichen Steigerung, können, so Reckwitz, den Widerspruch zwischen Fortschrittsversprechen und Verlusterfahrung nicht mehr überdecken. Trotzdem sei der Anspruch an die eigene gelungene Biografie, an das individuelle Glück sogar noch gestiegen. „Und aus dieser Erwartungsexpansion ergeben sich Erschöpfungsverluste.“

Aber wie sollen wir dieser Verlusterfahrung begegnen? „Wir müssen mit Verlusten rechnen, ihnen offensiver begegnen, sie abmildern, in dem wir sie bearbeiten“, sagt Reckwitz und bemüht den Begriff der Resilienz: „Da geht es ja nicht nur um die Widerstandsfähigkeit, sondern man muss sich verändern, um resilienter zu werden.“ Außerdem bedeute, Verluste zu akzeptieren nicht, den Kampf, etwa gegen den Klimawandel, aufzugeben.

„Die Moderne geht von der Gestaltbarkeit der Welt aus, davon, dass wir die Dinge steuern können. Man muss sich fragen: Ist das alles? Muss man nicht auch lernen, Dinge zu erleiden? Begreifen, dass bestimmte Dinge unverfügbar sind?“ Flaßpöhler denkt an die griechische Philosophieschule der Stoa, Reckwitz verweist auf den Buddhismus – und bemüht eine Fußballmetapher: Im Moment befinden wir uns in der Nachspielzeit. Der Veränderungsdruck ist noch nicht massiv, auch wenn das Ende des Spiels in Sicht ist.

„Aber wir sollten unser Fortschrittserbe auch wertschätzen: Bewahren, was wir bereits erreicht haben. Wenn man heute progressiv sein will, muss man auch konservativ sein.“ Andreas Reckwitz jedenfalls bewahrt, trotz aller Verlustkaskaden, die Ruhe: „Selbst wenn der gesellschaftliche Kollaps kommt, wird es trotzdem weitergehen.“