René Jacobs in der Kölner PhilharmonieSo anders klingt die lange verschollene Urfassung von „Carmen“

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Auf dem Bild ist der Dirigent zu sehen, er hält die arme überkreuz. Er hat weißes, lockiges Haar und trägt einen schwarzen Anzug. Im Hintergrund ein sakral anmutendes Gebäude mit vielen Kerzen.

René Jacobs

In der Kölner Philharmonie wurde die Urfassung von Carmen aufgeführt. Ausgerechnet die bekannte „Habanera“ fällt dabei vom Tisch.

Wie, eine „Carmen“ ausgerechnet ohne Habanera? Zweifellos hat der Operntraditionalist am Ausfall der erwarteten Glanznummer spontan schwer zu schlucken. Hat er aber einmal geschluckt, so wird er – vielleicht – den eigentümlichen Reiz der lange verschollenen 1874er Urfassung von Bizets nachmaligem Opernwelthit entdecken. Dort gibt es anstelle der späteren Habanera als Auftrittsarie der Titelgestalt ein heiteres Lied auf den Text „L’amour est enfant de Bohème“. Das ist keine hüftenschwingende Selbstexposition einer femme fatale, sondern eine Hymne an die Freiheit – mit naheliegenden Marseillaise-Anklängen. Es war die Carmen der Uraufführung, Célestine Galli-Marié, die es anders wollte und dann die Habanera-Alternative erzwang.

Bizet musste für die „Carmen“ viele Änderungen vornehmen

Schlucken musste seinerzeit – bis zur Uraufführung und darüber hinaus – eben gerade auch der Komponist. Bizet hatte viele Kompromisse – Veränderungen, Auslassungen und Ergänzungen – zu akzeptieren, die den Charakter des Werkes nicht unwesentlich veränderten. Die „Carmen“, die man landläufig kennt – sie hat mit der „Ur-Carmen“ streckenweise nicht mehr viel zu tun. Das merkt man, wenn der flämische Dirigent René Jacobs in diesen Tagen die unter seiner Mitwirkung rekonstruierte Urfassung in halbszenischen Aufführungen erstmals auf die Bretter bringt. Soeben war dies auch in der Kölner Philharmonie der Fall.

Da erlebt das Publikum nicht nur ungewohnte Klangmischungen sowie neue und als solche dramaturgisch wirksame musikalische Formen – Melodrame zum Beispiel –, sondern eben auch substanzielle Modifikationen der Charaktere. Von Carmen war bereits die Rede, aber auch Escamillo imponiert nicht als stierkämpfender Brüll-Bariton, und die Partie des José wirkt weicher, lyrischer, wärmer, als man es gewohnt ist. Das Schmuggler-Milieu schließlich zeigt seine burlesk-heiteren Aspekte, da vergisst man fast, dass „Carmen“, vom tödlichen Ende her gesehen, eine Tragödie ist.

René Jacobs lässt die Urfassung von Carmen in Köln aufführen

Jacobs hat mittlerweile im Metier der restaurierten Opern-Erstversion, mit dessen Befassung der Barockspezialist zugleich aus dem Epochenkäfig des 18. Jahrhunderts ausbrach, große Erfahrung. Nicht immer vermochten seine Entdeckungen für sich einzunehmen: Seine „Leonore“, also die Frühfassung des „Fidelio“, war ein Volltreffer, aber seine Neulektüre des „Freischütz“ vor zwei Jahren weithin ein Schuss in den Ofen. Mit der „Carmen“-Urfassung setzt er sich jetzt allerdings definitiv wieder auf die Erfolgsschiene – und sei es, weil jene geeignet ist, fragwürdige, aber eingefahrene Klischees imaginierter Weiblichkeit oder auch eines Folklorismus à l´espagnole zu zersetzen. Was die moderne Opernregie mit ihren Mitteln tut, das macht Jacobs mit den seinigen.

Dass das alles in der Philharmonie jetzt einprägsam, fesselnd und übrigens auch in der halbszenischen Auflösung überzeugend herüberkam, vermag angesichts von Jacobs' Dirigier-Input auf Anhieb zu verblüffen. Der Maestro agierte, bei insgesamt eher mäßigen Tempi, kleinteilig, leicht mechanisch, hing irgendwie unselbständig dicht über den Noten, fand – zumindest ausweislich der Optik – selten die Geste des großen Bogens.  Dies hatte zu Beginn noch die Folge, dass da eine Rest-Statik des dramatischen Ablaufs nicht vollends verflüssigt wurde, die musikalischen Bilder zu Tableaus gefroren. Auf die Strecke klappte das dann aber zusehends, wuchs den großen Steigerungspartien eine zwingende Kraft zu. Und gerade in der Interaktion zwischen Carmen und José gelangen – im dritten und vierten Akt – in ihrer psychologischen Eindringlichkeit bannende Szenen einer fatalen Wechselfixierung.

Gaëlle Arquez beeindruckt als Solistin

Jacobs' Interpreten-Aufgebot ist freilich durch die Bank formidabel. Das B'Rock Orchestra spielte in seiner kammermusikalisch differenzierten und schlank-genauen Farbigkeit (Hörner!), seinem irgendwie Mendelssohn-nahen Grundsound schlicht großartig, Wohllaut ist da in jeder Hinsicht mehr und anderes als sinfonische Tunke. Jacobs´ Mutmaßung, der zufolge das Samiel-Motiv aus dem „Freischütz“ Bizet zu Carmens widerkehrendem Schicksalsmotiv inspiriert habe – die pochend nachschlagenden Pauken lassen sie sogar als einigermaßen plausibel erscheinen. Der Choeur de chambre de Namur und der Kinderchor Oper Ballet Vlaanderen stellen, von wenigen Wackeleien abgesehen, Muster an stimmlicher Präsenz und schauspielender Agilität hin.

Nicht lumpen lassen hat sich Jacobs aber vor allem bei der Solistenriege. Gaëlle Arquez ist eine außerordentlich geschmeidige, in der tiefen Lage berückende Carmen, Francois Rougier ein im Prinzip lyrischer, aber im dramatischen Ausbruch durchaus potenter José, Thomas Dolié als Escamillo das Musterbeispiel eines graziösen Machotums, das nicht auf die Pauken hauen muss, Sabine Devieilhe eine engelgleich reine und zugleich innige Michaëla, im Timbre tatsächlich das extreme Gegenteil zur Carmen. Ihre optimale Leuchtkraft aber entfalten diese Künstler, wenn sie im Ensemble leise singen. Da fühlt man sich als Zuhörer mit geschlossenen Augen in eine bessere Welt entrückt. Stürmischer Beifall nach einer Netto-Dauer von gut drei Stunden – zu Recht!

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