Eröffnung der RuhrtriennaleDer Komponist, der seinen Messertod voraussah

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Mit "Ich geh unter lauter Schatten" wurde in der Bochumer Jahrhunderthalle die Ruhrtriennale 2022 eröffnet   

Bochum – „Ganz ohne weitere Vorstellung zog er aus seinem schwarzen Jackett, das er wahrscheinlich in Paris gekauft hatte, einen Dolch und stieß ihn mir direkt ins Herz.“ Klar, es ist unmöglich, dass jemand seinen eigenen Tod und selbstredend auch das „Danach“  berichtet. Erhalten haben sich reale Botschaften aus „Drüben“ jedenfalls nicht – allen spirituellen oder spiritualistischen Weiterungen zum Trotz. Und ein aufgeklärtes Bewusstsein muss deren Existenz sowieso  leugnen.

Irritierend ist die zitierte Stelle trotzdem: Der franco-kanadische Komponist Claude Vivier platzierte die Erzählung des eigenen Todes ausgerechnet in seinem unvollendeten opus ultimum mit dem Titel „Glaubst du an die Unsterblichkeit der Seele“ von 1983. Im nämlichen Jahr wurde er von einem Prostituierten in Paris ermordet – die Leiche war mit Messerstichen übersäht. Ahnte da also jemand etwas voraus? Wie auch immer: Auch besagtem abgeklärtem Aufklärungsbewusstsein kann angesichts solcher Konstellationen schon mal mulmig werden.

Mulmig werden darf und soll es auch  den Besuchern von Elisabeth Stöpplers Musiktheater-Produktion „Ich geh unter lauter Schatten“ , mit dem soeben die RuhrTriennale 2022 und damit die zweite Spielzeit der Intendantin  Barbara Frey eröffnet wurde. Die  Vivier-Komposition gehört hier zu einem Ensemble aus vier thematisch affinen Werken der musikalischen Hochmoderne (neben Vivier Gérard Grisey, Iannis Xenakis und Giacinto Scelsi), die in der Bochumer Jahrhunderthalle  über knapp zwei pausenlose Stunden zu einer theatralen Einheit („Oper“ kann man das Resultat nicht nennen) zusammengefügt werden. Jedenfalls versucht man das.

Eine publikumsfeindliche Marotte?

Weil es hier zentral um als solche erlebte und gestaltete Schwellen- und Grenzüberschreitungen zwischen  Leben und Tod geht, beginnt die Vorstellung erst um 21 Uhr. Eine publikumsfeindliche Marotte? Nein, erst die hereinbrechende (natürliche) Dunkelheit macht jene (künstlichen) Licht-, Dämmer- und Schatteneffekte möglich, die das Geschehen wirkungsvoll begleiten. 

Wie nun also? Der Bühnenbildner Hermann Feuchter hat das weite Areal der alten Industriehalle mit mehreren gegeneinander versetzten (ikonografisch ein wenig an Piranesis „Carceri“ erinnernden) eisernen Laufstegen überspannt, die vom Ground Level nach oben ins Irgendwo führen – kraftvolle Raumsymbole für die beschriebenen  Übergänge vom Diesseits ins Jenseits. Auf diesen Stegen und auf der  Bodenebene   wird dann gewandelt, gesungen und (fiktiv) gestorben; an diesen Orten wirken  die Gesangssolisten, die Choristen von Chorwerk Ruhr und die Musiker des von Peter Rundel geleiteten Wiener Klangforums. Weil sich die Sound- genauso wie die Lichtquellen verteilen, diversifizieren, entsteht ein immer wieder anderer Raumklang. Erlebbar wird so eine dem Rahmenthema entsprechende Musikmetaphorik des Ertönens und Verhallens.

Gesänge über Todesarten

In der Mitte der Aufführung und auch Handlung(en) – die man als solche freilich kaum bezeichnen mag – stehen als ihr Gerüst Griseys  „Quatre chants pour franchir le seuil“ (1996/98), auch sie übrigens ein letztes Werk. Es handelt sich dabei um vier Gesänge über „Todesarten“ (in Anlehnung an  den Titel von Ingeborg  Bachmanns geplantem Romanzyklus): den „Tod des Engels“, den „Tod der Zivilisation“, den „Tod der Stimme“ und den „Tod der Menschheit“. Zwischen  diese  von Stöppler szenisch aufgelösten (mikrotonal angelegten „Spektral“-) Kompositionen schieben sich die  Stücke von Vivier, Xenakis und Scelsi. 

Wie das geht?  Im „Tod des Engels“ wandelt die Sopranistin Sophia Burgos im langen weißen Kleid singend durch die Sphären und wird dabei eingekreist, bedrängt und schließlich überwältigt  von den in graue Arbeitskleidung gesteckten und hier wohl Todesboten figurierenden Choristen. Die formieren sich – eine probate Verzahnung – zugleich  für das anschließende, mit drei Synthesizern, Schlagzeug und zwölf Stimmen besetzte Vivier-Stück. 

Ein allzu dünner narrativer Faden

Das ist eindrucksvoll genug, wenn die Sängerin in der Erscheinung auch die leicht komische Anmutung eines exaltierten Nachtgespenstes nicht ganz  los wird. Indes „kippt“ der Abend dann auf der Folgestrecke – trotz mancher starker Eindrücke im Einzelnen und der in allen Belangen großartigen Performance  von Sängern und Instrumentalisten, die hier immerhin hochkomplexe Partituren zu bewältigen haben.

Warum? Weil er an der Lücke leidet, die sich auftut zwischen dem steilen intellektuellen Anspruch, wie er im Programmheft und den Begleitessays formuliert wird, und der aufs Ganze gesehen dann doch ziemlich ausgedörrten Bühnenrealisation. Und gar nicht funktioniert der dünne narrative Faden, der mit Hilfe der zuweilen sardonisch lachenden „Stimme V“ von Eric Houzelot gesponnen wird. Das Ganze fällt auseinander – vor allem aber zieht es sich arg  in die Länge. 

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Klar, solchermaßen soll nach dem   Willen der Macher auch beim Zuschauer ein neues Zeitempfinden entstehen, eine Art psychedelische Transformation  ausgelöst werden. Damit drohen sie argumentativ  dem Kritiker immer in der Weise  voraus zu sein, wie es der Igel dem Hasen ist.  Aber ist es wirklich verwerflich, wenn jenen  – den Zuschauer – bei dem nicht aufhören wollenden Getrommel  in Griseys Schlagzeugerstück „Tempus ex machina“  – der Wunsch beschleicht, es möge genau das tun, nämlich endlich aufhören? Der leicht sedierende Effekt der Produktion – er kann nicht allein auf die stickige Sommerwärme in der Jahrhunderthalle zurückgeführt werden.

Nächste Aufführungen: 13., 15., 18., 21. August

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