Mehr als 100 Millionen Menschen spielen SchachDeswegen ist das Spiel der Könige wieder im Trend

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Die Kontrahenten sitzen sich in Denkposen gegenüber, wischen ihnen das Schachbrett. Ein Handy mit Stativ filmt das Brett.

Die beiden prominenten Schachspieler Wesley So und Hikaru Nakamura bei Indiens größtem Schach-Turnier, dem „Tata Steel Chess India“.

Hohe Anmeldezahlen bei Online-Plattformen und viel Aufmerksamkeit für Schachinfluencer auf Youtube und Twitch. Dass Schach sich zu einem Medienphänomen entwickelte, hat mehrere Gründe.

Im Jahr 1999 machte das Internet eine der spannendsten Schachpaarungen aller Zeiten möglich: Der russische Schachweltmeister Garri Kasparow spielte gegen die ganze Welt. Beide Parteien hatten pro Zug jeweils 24 Stunden Bedenkzeit. Für Team Welt diskutierten Experten ihre Ideen aus und Zehntausende Internetnutzer stimmten anhand ihrer Vorschläge über den tatsächlich gemachten Zug ab. Die Partie ging vom 21. Juni bis zum 22. Oktober. Die Welt gab nach 62 Zügen auf, Kasparow blieb als König des Denksports auf seinem Thron.

Was für eine Liebesbeziehung Schach und das Internet haben würden, das konnten damals wohl die Wenigsten vorhersehen. Heute kann man auf dem Live-Streaming-Portal Twitch große Turniere mitverfolgen, auf YouTube gibt es Lehrvideos von Großmeistern, und über Online-Plattformen wie Lichess kann man sich jederzeit mit Spielern messen, die der eigenen Spielstärke entsprechen. Die bekannteste Schachplattform Chess.com verbuchte Ende 2022 laut eigenen Angaben mehr als 100 Millionen Nutzer, 2014 waren es noch 10 Millionen gewesen. Das Spiel der Könige ist ein wahres Medienphänomen.

Corona und „Queen's Gambit“ verhalfen Schach zum Boom

Doch warum ist Schach wieder so populär geworden? Für den Präsidenten des Berliner Schachverbandes, Paul Meyer-Dunker, liegt das teilweise an der Corona-Pandemie, wie er im Gespräch mit dem Kölner Stadt-Anzeiger erklärt: „In dieser Zeit waren unheimlich viele Leute Zuhause und die Möglichkeiten waren sehr begrenzt. Das Online-Schachspiel war für viele eine wunderbare Möglichkeit, durch diese Zeit zu kommen.“

Auch die Kölner Schachszene hat sich dadurch vergrößert, wie Andreas Gerdau vom Kölner Schachverband festhält: „Nach Corona haben auch einige, die online gespielt haben, Zugang zum Vereinsschach gefunden. Wir lagen im Kölner Schachverband die vergangenen Jahre immer bei circa 1450 Mitgliedern – Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Das hat sich auf über 1650 erhöht.“

Neben der Pandemie dürfte auch der Start der Netflix-Serie „Das Damengambit“ (Originaltitel: „The Queen’s Gambit“) im Oktober 2020 entscheidend gewesen sein. Die Serie mit Anya Taylor-Joy in der Hauptrolle verankerte Schach zu einem entscheidenden Zeitpunkt tiefer in der Popkultur. Andere Streamingphänomene verstärkten den Trend. Unter dem Namen „Pogchamps“ traten Internet-Größen wie Pokimane und Mr. Beast oder der aus „The Office“ bekannte Schauspieler Rainn Wilson in Amateur-Schachturnieren gegeneinander an. Diese konnte man auf Twitch mitverfolgen, die Schachwelt fischte so im Habitat der Gaming-Szene und bekam viel Zulauf.

Hikaru Nakamura und GothamChess bieten auf YouTube viel Content

Mittlerweile gibt es dank eifriger YouTuber wie Levy Roßmann (GothamChess) oder der Botez-Schwestern eine Fülle an Videos, die bedeutende Matches rekapitulieren, die besten Eröffnungen und ihre Varianten erklären oder schlichtweg unterhalten. Und mit Hikaru Nakamura zog sich einer der besten Schachspieler der Welt kurzzeitig aus dem professionellen Betrieb zurück und wurde hauptberuflich Content Creator. Sein beliebtestes Video verzeichnet 14 Millionen Aufrufe auf YouTube.

„Es gibt heutzutage sehr viele Schachinfluencer“, sagt Paul Meyer-Dunker vom Berliner Schachverband. „Generell gibt es heute so viele Möglichkeiten wie nie zuvor, sich mit Schach beruflich, nebenberuflich oder als Hobby zu verwirklichen.“ Die Beliebtheit des Denksports bei einem jüngeren Publikum kommt sicher auch über Apps zustande. Diese bieten Lektionen an oder zeigen nach einer Partie auf, wo man bessere Züge hätte spielen können. Hat man privat niemanden, mit dem man spielen kann und traut man sich nicht in einen Schachverein, muss man nur das Handy zücken. Die Schwelle zum Schach ist so niedrig wie nie.

Schach schreibt die besten Geschichten, siehe Kortschnoi gegen Karpow

Letztlich verdankt Schach seinen Erfolg vor allem sich selbst. Das Spiel schreibt fortan Geschichten und entwickelt selbst innerhalb einzelner Partien eine spannende Dramaturgie. „Mit Schach haben wir die ultimative Form des Duells“, sagt Meyer-Dunker. „Das gibt es in keinem Sport der Welt, dass sich ein solcher Kampf über fünf, sechs Stunden zieht und jeder Moment entscheidend sein kann. Denn der erste Fehler ist häufig der letzte.“

Deswegen spielt die Psychologie auch eine große Rolle. Besonders kurios war die Schachweltmeisterschaft 1978 zwischen Karpow und Kortschnoi. Kortschnoi vermutete einen Betrugsversuch Karpows, weil ihm mitten im Spiel Joghurt serviert wurde, zudem saß in den Rängen ein sowjetischer Parapsychologe namens Wldadimir Suchar, der Kortschnoi anstarren und so aus dem Konzept bringen sollte. Kortschnoi wehrte sich gegen die übersinnlichen Angriffe mit einer verspiegelten Brille, die wiederum Karpow störte.

Legendäre Charaktere von Paul Morphy bis Magnus Carlsen

Der Sport steckt voller prägender Gestalten wie Paul Morphy oder Capablanca. Viele von ihnen sind durch Spielzüge, die nach ihnen benannt sind, für immer darin verewigt, etwa in der Ruy-Lopez-Eröffnung oder der Caro-Kann-Verteidigung. So entwickelt Schach fortwährend seinen eigenen Mythos.

Unvergessen ist das legendäre Match zwischen Garri Kasparow und dem IBM-Computer Deep Blue, in dem zum ersten Mal die beste Maschine den besten Menschen besiegte. Und mit Magnus Carlsen erleben wir den vielleicht besten Schachspieler aller Zeiten live. Dessen Betrugsvorwürfe gegen Hans Niemann zeigen, dass auch ein intellektueller Sport nicht ohne Drama auskommt – zumal das Schummeln heute leichter ist als je zuvor.

An der kontroversesten und bekanntesten Figur des Sports wird auch seine politische Natur deutlich. Als Bobby Fischer den russischen Großmeister Boris Spassky besiegte und die langjährige sowjetische Vormachtstellung im Schach durchbrach, geriet das Schachbrett sogar zum Nebenschauplatz des Kalten Krieges. Später fiel Fischer vor allem wegen seiner antisemitischen Aussagen auf und ging wegen Schwierigkeiten mit der US-Regierung ins isländische Exil.

FIDE-Präsident Dworkowitsch wegen Putin-Nähe in Kritik

Schach ist immer noch hochpolitisch. „Ein Problem, das wir im Schachsport haben, ist, dass er bis heute das Juwel Russlands und des Kremls geblieben ist“, erklärt Meyer-Dunker. Der FIDE-Präsident Dworkowitsch war unter Medvedev Vizepremier in Russland, bevor er den Posten des Weltverbandspräsidenten im Schach übernahm.

„Das schadet unserem Ruf sehr und schränkt unsere Entwicklungsmöglichkeiten enorm ein“, sagt Meyer-Dunker. „Wie soll ich Sponsoren und Partner für internationale Schachveranstaltungen gewinnen, wenn ich gefühlt jedes Mal einen intransparenten, russlandtreuen Sportverband mit fragwürdigem Geschäftsgebaren im Nacken habe?“ Spätestens seit dem Angriffskrieg Russlands in der Ukraine wird auch die Öffentlichkeit auf die Verflechtung des Verbandes mit Russland aufmerksam. Die Schachszene empörte sich kürzlich darüber, dass Dworkowitsch zum internationalen Tag des Schachs in Moskau Putin-Pressesprecher Dmitri Peskow begrüßte.

Auch wenn die internationale Schachszene noch keinen angemessenen Umgang mit diesen Konflikten gefunden hat, verliert der Sport dadurch nicht seine Relevanz. Im Gegenteil ist die Demokratisierung des Schachs und die erhöhte Aufmerksamkeit vielleicht eine Chance. Es ist eben nicht mehr nur das Spiel der Könige, auch wenn die Welt damals gegen Kasparow verlor. Es ist das Spiel aller.

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