Schreiben nach Gehör„In NRW werden Regeln tendenziell später eingeführt“

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Symbolbild.

Herr Professor Steinig, wie sieht Ihre eigene sprachwissenschaftliche Forschung zum Thema „Schreiben nach Gehör“ aus?

Wir haben eine Langzeitstudie zum Schreiben von Viertklässlern durchgeführt, die 1972 begann und in den Jahren 2002 und 2012 an den gleichen Grundschulen im Ruhrgebiet wiederholt wurde. Die Schüler sollten jedes Mal im Anschluss an den gleichen kurzen Film einen Text schreiben. So konnten wir sehen, wie sich das Schreiben in 40 Jahren verändert hat.

Betraf das allein die Orthografie?

Uns ging es nicht allein um die Rechtschreibung, also um das Thema, das die Öffentlichkeit immer sehr interessiert. Wir haben auch die Textgestaltung, die Grammatik und den Wortschatz untersucht. Dabei haben wir festgestellt, dass sich die Beherrschung der Orthografie im Laufe der Zeit deutlich verschlechtert hat, der Wortschatz aber umfangreicher und die Texte interessanter wurden. 1972 kam es den Schülern offenbar stärker darauf an, alles korrekt zu schreiben – 2002 und 2012 wurden die Texte aber persönlicher und kreativer.

Woran liegt das?

Die Schüler finden natürlich sehr schnell heraus, was einer Lehrerin oder einem Lehrer wichtig ist. Wenn sie auf interessante Texte mehr Wert legen als auf korrekte Rechtschreibung, dann werden sich Schüler auch an dieser Einstellung orientieren.

Wie verbreitet ist die Methode „Schreiben nach Gehör“ eigentlich?

Bundesweit unterrichten nur etwa zwei bis drei Prozent aller Lehrkräfte streng nach der Methode „Schreiben nach Gehör“ , die der schweizerische Pädagoge Jürgen Reichen entwickelt hat. Die meisten Lehrkräfte orientieren sich an dem an ihrer Schule eingeführten Lehrwerk und weichen dabei mehr oder weniger stark davon ab. Man kann deshalb nur selten sagen, dass ein Lehrer X nach der Methode Y unterrichtet.

Warum dann die ganze Aufregung?

Wichtiger ist die Frage, wie rasch nach der Einschulung auf die Rechtschreibung Wert gelegt wird. Und da können die Unterschiede von Schule zu Schule sehr groß sein, wobei sie einem Nord-Süd-Gefälle folgen. Je weiter man nach Süddeutschland kommt, desto regelkonformer wird unterrichtet. Auf einige östliche Bundesländer trifft das noch stärker zu; in NRW oder Niedersachsen werden orthografische Regeln tendenziell später eingeführt.

Das korrespondiert mit anderen Ergebnissen aus der Bildungsforschung ...

Dieses Gefälle korreliert mit den Ergebnissen, wie sie von Bildungsstudien wie Pisa oder Iglu ermittelt wurden. Hier lagen Sachsen, Thüringen, Bayern und Baden-Württemberg immer deutlich vor den nördlichen und westlichen Bundesländern.

Gibt es weitere Verwerfungen?

Was uns am meisten Sorge bereitet hat bei der Auswertung unserer Studie, ist das Gefälle zwischen Kindern aus bildungsnahen und bildungsfernen Schichten, das seit den 1970er Jahren sehr viel größer geworden ist.

Welche Rolle spielt es, dass ein Schüler aus einer Migrantenfamilie stammt?

Der Migrantenstatus ist dabei weniger bedeutsam. Wichtiger ist die soziale Herkunft der Schüler. Vietnamesen zum Beispiel schneiden besser ab als deutsche Schüler. Im bildungsbewussten Heidelberg, wo ich lange gelebt habe, ist die Abitur-Quote von Migranten höher als die der Deutschen. In Sachen Rechtschreibung erzielen übrigens türkische Mädchen gute Ergebnisse, türkische Jungen hingegen wesentlich schlechtere, hier gibt es also einen deutlichen geschlechtsspezifischen Unterschied.

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