Das Kölner Sommerblut-Festival startet mit einer Tanzperformance der Bremer Compagnie Unusual Symptoms im Depot 1. Unsere Kritik.
Sommerblut-FestivalErst fällt das T-Shirt, dann die Hose, dann werden Körper befreit

Unusual Symptoms / Theater Bremen / Adrienn Hód
Copyright: Jörg Landsberg
Zuerst hat man das unbestimmte Gefühl, versehentlich eine Tür zum falschen VHS-Kurs geöffnet zu haben: Auf der verkleinerten Spielfläche des Depot 1 strecken, ziehen und verknäulen sich Paare in Dehnungs- und Lockerungsübungen, die nicht für den öffentlichen Blick inszeniert zu sein scheinen. Nur vorne übt ein junger Mann allein am Barre Positionen zum Tablet-Video einer Ballettstunde.
Es sind neun Menschen mit und ohne Behinderungen, die hier ihre entkrampfenden Balanceakte vollführen. Körper, wie man sie immer noch selten als Teil eines Tanzensembles sieht. Die Teilnehmenden stöhnen genügsam, klopfen sich die Muskeln ab, kümmern sich nicht weiter um die Zuschauenden, die sich nicht nur im Parkett, sondern auch an den drei Wänden der Bühne verteilt haben. Sind wir zu früh ins Theater gekommen? Darf man überhaupt zugucken? Und wann geht es endlich los, was auch immer das hier sein mag?
Das Sommerblut-Festival steht unter dem Motto „Democracy needs you“
„Harmonia“ heißt die ungewöhnliche Produktion, mit der Unusual Symptoms, die Tanzcompagnie des Theaters Bremen, und die ungarische Choreografin Adrienn Hód am Mittwoch die 24. Ausgabe des Kölner Sommerblut-Festivals eröffneten. Sie steht dieses Jahr unter dem Motto „Democracy needs you“, die Demokratie braucht dich.
Beinahe unmerklich werden die Dehnübungen auf der Bühne anspruchsvoller, auch fantasievoller. Spätestens, wenn eine kleinwüchsige Tänzerin wie eine Wellenreiterin auf dem Rücken ihres Partners posiert, wird klar, dass man keinem normalen Aufwärmtraining beiwohnt. Vielleicht hat man ja doch die richtige Tür geöffnet.
Rollstuhl-Räder werden zu Trainingsgeräten
Jetzt streifen die Tänzerinnen und Tänzer ihre T-Shirts ab, lassen die Hosen fallen, lassen die Neugier zu, mit der die Sitzenden ihre Körper betrachtet und bleiben doch ganz bei sich, fast alle tanzen jetzt allein. Leise setzt eine Herzschlag-Bassdrum ein, wird langsam lauter, insistierender. Ein Rollstuhl wird seiner Räder entkleidet, zwei Tanzende widmen sie zu Trainingsgeräten um. Ein schwarzer Tänzer öffnet seine Corn-Rows, schüttelt sein Haar frei, stolziert zum Bühnenrand und schnippt mit den Fingern. Prompt wechselt das Licht, taucht das Publikum ins Dunkel, fokussiert den Blick aufs Geschehen.
Plötzlich hämmert die Bassdrum, die Bewegungen gleichen sich ihrem Rhythmus an, werden ekstatischer. Schließlich bildet das Ensemble eine Diagonale, nur kurz, dann löst sich die Formation wieder auf und die Bewegungen frieren nach und nach wieder ein, bis nur eine einsam zum Beat zitternde Pobacke übrig geblieben ist. Der Puls bleibt aus, die Spannung verpufft, die Tanzenden ziehen sich wieder an, trinken einen Schluck Wasser, oder wischen vergossenen Schweiß vom Boden, nehmen kurz Platz um durchzuatmen.
Und erheben sich dann erneut zu lustvollen Soli, wirbeln im Rollstuhl zu Gloria Estefans „Conga“, Michael Sembellos „Maniac“ oder Snaps „Rhythm is a Dancer“. Die gut abgehangenen Dancefloor-Klassiker sind verfremdet, laufen schneller ab oder sind zu einem Stottern zerhackt. Umso befreiter und ausgelassener und selbstverständlicher wirken dafür die tanzenden Körper, das also war der Sinn der ausgedehnten Übung.
Die Tanz-, Theater-, Performance- und Musikveranstaltungen des Sommerblut-Festivals kann man noch bis zum 11. Mai in Köln erleben. Das ganze Programm finden Sie unter: www.sommerblut.de