Choreografin Ursina Tossi hat den „Schwanensee“, das Ballett der Ballette, ordentlich gerupft. Unsere Kritik.
„Swan Fate“ im DepotSchwanensee als feministischer Grusel

Szene aus Ursina Tossis Choreografie „Swan Fate“
Copyright: Alexandra Polina
Da hat offenbar ein gewaltiger Sturm im „Schwanensee“ getobt, hat den uralten Schlamm aufgewirbelt und weggespült. Die kitschige Lovestory? Verschwunden. Der Prinz und sein zeremonielles Upperclass-Milieu? Weg damit. Fade Genderklischees? Braucht man nicht mehr, genauso wenig wie Spitzenschuhe, Tüll-Tütüs, gedrillte Körper.
Der Sturm hat einen Namen: Ursina Tossi. Die für ihren queerfeministischen, inklusiven Ansatz bekannte Choreografin ist in das Ballett der Ballette eingetaucht und hat den Vogel ordentlich gerupft. Entstanden ist „Swan Fate“. Die Produktion wurde zum Ende des Festivals „Tanz NRW“ im Depot gezeigt, ein Solidarbekenntnis des Kölner Schauspiels mit der freien Szene, längst geplant, aber nach Bekanntwerden der vernichtenden Etat-Kürzungen um bis zu 50 Prozent bei der freien Theater- und Tanzszene ein umso wichtigeres Signal.
Endlich schwebt ein fauchendes Schwanenwesen davon
Geblieben sind vom Klassiker bei Ursina Tossi nur einzelne, sonst gewissermaßen „diskriminierte“ Motive: der schwarze tiefe See etwa, sonst bloß romantische Kulisse. Hier bekommt er eine zauberhafte Hommage mit einem Solisten, der sachte im Bühnenzentrum schaukelt und schlängelt wie eine von Wellen bewegte Unterwasserpflanze. Oder die Theriomorphose, die Verwandlung von Frau in Schwan. Im Klassiker wird die brutale Umgestaltung eines weiblichen Körpers durch einen Mann, den Zauberer Rotbart, nie gezeigt.
Ursina Tossi aber, die frühere Stücke schon dem Arsenal an weiblichen Horrorkreaturen, den Hexen, Werwölfinnen, Gespenstern gewidmet hat, lässt sich diese Gruselszene natürlich nicht entgehen: Erst ein Körperkrampf, ein Griff an den langgestreckten Hals, dann beginnt der Kopf vogelhaft zu ruckeln, die Arme schlagen hektisch wie Flügel bis endlich ein fauchendes Schwanenwesen davonschwebt. Eine Körperzurichtung ist das, wie man sie auch dem Ballett vorwirft, und die gibt es immer wieder bei Tossi.
Aber noch mehr das Gegenteil, das Empowerment. Da wird das klassische Vokabular mit seinen Spagatsprüngen und Pirouetten vom perfektionistischen Formzwang befreit und von den zehn charismatischen Performerinnen und Performern mit hitziger, kraftvoller Wucht neu interpretiert. Von einem „Swan Fate“, einem Schwanenschicksal, kann bei diesen befreiten Wildtieren wirklich keine Rede sein.
Auch der Schmelz in Tschaikowskys Komposition findet sein heutiges Echo in den ein bisschen an Björk erinnernden Elektroklängen des US-Schwesternduos CocoRosie. Und wie schon in früheren Arbeiten gehört für Tossi zur selbstbewussten Traditionsaneignung die Inklusion: So wird die gesamte Performance von Audiodeskription begleitet. Auch für die Sehenden wird also permanent verbalisiert, was sie doch gerade selbst sehen – oder oft: ganz anders sehen als der Sprecher. So wird die viel beschworene Inklusion eben nicht nur thematisiert, sondern ästhetisiert und als künstlerisches Mittel integriert. In der Wirkung ist das irritierend, als Konzept bewundernswert konsequent.
Emanzipation also auf allen Ebenen in diesem starken, intelligent-aggressiven „Swan Fate“ – und nichts hätte zum Schluss von „Tanz NRW“ klarer verdeutlichen können, welche künstlerischen Verluste nun drohen angesichts der geplanten Förderkürzungen bei der freien Theater- und Tanzszene.