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The Flaming Lips in KölnDas unfassbarste Konzert des Jahres

Lesezeit 4 Minuten
Wayne Coyne singt mit angewinkelten Arm und zurückgeworfenen Kopf ins Mikro. Er trägt einen dunkelblauen Anzug vor gelb-roter Videoleinwand.

Wayne Coyne, Sänger der Flaming Lips vor der psychedelischen LED-Wand der Band.

Seit 19 Jahren sind The Flaming Lips, Kultband aus Oklahoma, nicht mehr in Köln aufgetreten. Im E-Werk entschädigten sie mit einer fast dreistündigen Show.   

Nach drei Stunden stehen wir knöcheltief in Konfetti, schütteln noch die letzten Seidenpapierschnipsel in Form kleiner Männchen aus den Haaren, grinsen idiotisch und fast ein wenig verschämt, wie Erwachsene, die von Kindern beim Himmel-und-Hölle-Hüpfen erwischt wurden. Das hatten wir vergessen, dass man so viel Spaß haben kann. Und auch, wie tief dieser Spaß in dir nachhallen kann. Das rosa Konfetti korrespondiert mit den drei Meter hohen Aufblas-Robotern, die zu Anfang des Konzerts auf der fast zu kleinen Bühne des Kölner E-Werks im Takt wippten – nur dass letztere anstelle eines Kopfes einen Butt-Plug auf den Schultern tragen. Außerdem verdecken sie die Musiker.

Aber das macht nichts, weil Wayne Coyne, Sänger, Zirkusdirektor und Chefmythologe der Flaming Lips, derzeit sowieso das einzig tourende Mitglied der Band aus Oklahoma ist. Michael Ivins, die einzige entzündete Lippe, die außer Coyne zur Urbesetzung von 1983 gehört, hat sich zu Anfang des Jahrzehnts ausgebrannt in den Vorruhestand verabschiedet. Multiinstrumentalist Steven Drozd, der heimliche musikalische Genius der Lips, pausiert, erschöpft vom Dauertouren.

Wayne Coyne hüpft mit rosa Riesenrobotern um die Wette

Nur Wayne Coyne zeigt, trotz seiner 64 Jahre, nicht die geringsten Ermüdungserscheinungen, mal abgesehen von der zu Anfang ziemlich angeschlagen wirkenden Stimme. Aber auch da beißt er sich durch, hüpft wie im Wettstreit mit seinen rosa Riesenrobotern, fordert das Publikum in seltenen ruhigen Minuten zum Dauerklatschen und -jauchzen auf. Auf langer Strecke macht das was mit dir: Es ist Kindergeburtstag in der Nervenheilanstalt.

Alles zum Thema E-Werk

Der erste Teil der Show ist dem erfolgreichsten Album der Flaming Lips gewidmet, „Yoshimi Battles the Pink Robots“ aus dem Jahr 2002, von der Cat Stevens‘ „Father and Son“ zitierenden Eröffnungsnummer „Fight Test“ bis zum Grammy-gekrönten Instrumental „Approaching Pavonis Mons by Balloon“. Der erwähnte Berg ist ein erloschener Vulkan auf dem Mars, von Oklahoma aus betrachtet ein Sehnsuchtsort. Den Höhepunkt bildet „Do You Realize??“, das naivste und zugleich erschütterndste Memento mori der jüngeren Popgeschichte. Coyne fordert das Publikum zu spontanen Liebesbekenntnissen und Umarmungen auf, dann besingt er die Vergänglichkeit unter einem luftgefüllten Regenbogen, gehalten von zwei Stagehands, die im rheinischen Fachhandel erstandene Narrenkappen tragen.

Dass seit dem letzten Flaming-Lips-Auftritt in Köln unglaubliche 19 Jahre vergangen sind, vergisst Coyne ebenfalls nicht zu erwähnen, begleitet vom überschwänglichen Lob der Stadt – dabei bedurfte es kaum zusätzlicher Worte, nachdem die Band als Eingangsmusik charmanterweise „Vitamin C“ von Can gewählt hatte. Die psychedelischen Streicheleinheiten von „Yoshimi …“ vergehen fast zu schnell, nebenbei sei kurz erwähnt, dass „The West Wing“-Schöpfer Aaron Sorkin das herrlich spinnerte Album einst zum Broadway-Musical umschreiben wollte, selbstredend ohne Erfolg.

Nach einer kurzen Pause kehrt die Band zu einem Best-of-Set zurück, das sogar noch bizarrer ausfällt: Immer noch spielen die Lips „She Don’t Use Jelly“, ihren MTV-Zufallshit von 1993, als sie noch ungewaschene Indierocker ohne kosmische Aspirationen waren. Vor „Flowers of Neptune 6“ gibt Coyne eine Anekdote der Country-Sängerin Kacey Musgraves weiter, die nach dem Genuss von LSD behauptete, in ihrer Küche mit einem Glühwürmchen Bossa Nova getanzt zu haben. Dazu hat er sich selbst als Blümchen kostümiert und sieht damit aus wie Peter Gabriels leicht zurückgebliebener kleiner Bruder. Später hält er einen großen roten Kussmund vor seinem Unterkörper, während zwei Assistenten links und rechts in überdimensionierten Augäpfeln stecken.

Während die meisten Menschen ihre Grundüberzeugungen und Glaubenssätze im familiären Umfeld oder im Freundeskreis formen, muss Wayne Coyne der Sinn des Lebens während einer von Halluzinogenen unterstützten Pink-Floyd-Lasershow im örtlichen Planetarium aufgegangen sein. Seit mehr als 40 Jahren befindet er sich mit seiner Band auf einer Odyssee zu dieser verlorenen Unschuld.

An diesem Mittwochabend profitieren wir alle davon. Die profunderen Stücke stammen allesamt von „The Soft Bulletin“, dem „Revolver“ zu Yoshimis „Sgt. Pepper’s“, das Meisterwerk, mit dem sich die bereits in die Jahre gekommene Band 1999 noch einmal völlig neu erfand. Schon die nur durch eine rudimentäre Comic-Metapher gefilterte Verzweiflung in „Waitin‘ for a Superman“ zielt herzwärts. Mit der letzten Zugabe „Race for the Prize“ brechen endgültig alle Dämme. Mit letzter Kraft singt Coyne von der heroischen Aufopferung von Wissenschaftlern auf der Suche nach einem Allheilmittel – „sie sind auch nur Menschen mit Frauen und Kindern“ – und zu den finalen Drum-Donnerschlägen, Keyboard-Fanfaren und Salven aus den Konfettikanonen hält er eine Skulptur aus silberglänzenden Ballonbuchstaben in die Höhe: „Fuck yeah! Cologne“ ruft die aus und es ist der Moment, in dem sich Spektakel und Innenleben exakt entsprechen.