Türkei-Wahl„Erdogan oder die Demokratie“– Deutsch-türkischer Journalist über Propaganda in Köln

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Der Journalist und Filmemacher Osman Okkan mit Brille, Hemd, Schal und Jacke und einer Kölner Straße im Hintergrund.

Der Journalist und Filmemacher Osman Okkan vom Kulturforum Türkei Deutschland (Archivbild).

Osman Okkan hat über die Einflussnahme der AKP auf Wähler in Köln und die Rolle der Stadt als Metropole und Exil der türkischen Diaspora gesprochen.

Herr Okkan, am 14. Mai ist in der Türkei Wahl und der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan hat bei den im Ausland lebenden Wählern massiv Vertrauen verloren. Woran liegt das?

Osman Okkan: Es steht mehr eine Volksabstimmung bevor als eine Wahl – Erdogan oder die Demokratie. Viele Menschen haben nach dem Erdbeben sehr konkret wahrgenommen, dass Versprechungen nicht eingehalten worden sind, dass aus früheren Katastrophen keine Lehren gezogen wurden, dass trotz sehr verbindlicher Zusagen Bauvorschriften nicht beachtet wurden. Im Gegenteil, man hat in erdbebengefährdeten Gebieten immer wieder Amnestien erlassen, damit diese lebensgefährlichen Gebäude noch bestehen bleiben oder sogar weiter gebaut wurden.

Das Erdbeben ist für die türkische Community in Köln also noch sehr präsent?

Eine Vielzahl der Arbeitsmigranten kommt aus den betroffenen Gebieten, sie zählen zu den ärmeren Regionen in der Türkei, dadurch haben sie eine direkte Betroffenheit. Wir merken das auch bei den Besuchern aus der Türkei, die erstaunt sind, wie virulent das Beben hier immer noch ist. In den türkischen Medien, die meistens in westlichen Teilen des Landes angesiedelt ist, nimmt man das nicht mehr so wahr. Jetzt wird dargelegt, dass die offiziellen Hilfsorganisationen versagt haben, die AKP und ihre Wähler bei der Erdbeben-Hilfe eine religiöse Richtung unterstützt und die Aleviten, Kurden und arabischen Minderheiten zumindest in der Anfangsphase vernachlässigt haben. Mit der Zeit kommt ins öffentliche Bewusstsein, dass viele Leute ohne Begründung in den Gefängnissen sitzen, es völlig willkürliche Maßnahmen sind und die Justiz korrumpiert worden ist. Aber das ist ein langsamer Prozess, weil die hiesige Community von der politischen Partizipation noch ziemlich entfernt ist.

In Deutschland und auch in Köln?

Ja, denn man nimmt an, je länger sie in Deutschland bleiben, desto besser sind sie „integriert“ und nehmen teil am politischen Geschehen. Das ist nur für eine kleine Minderheit wahr. Der Rest ist nicht mal sprachlich in der Lage, sich am politischen Geschehen zu beteiligen, sich zu informieren. Nicht umsonst landen so viele in den Hauptschulen und immer noch so wenige auf dem höheren Bildungsweg. Das „Heimatfernsehen“, als türkischsprachiges Fernsehen aus der Heimat, ist immer noch ihr Leitmedium. Das ist für die Generationen davor noch deutlicher.

AKP mobilisierte bisher im Ausland mehr Wähler als die Opposition

Man nimmt wahr, dass auf der Straße ein verständliches Deutsch gesprochen wird und daraus schließt man, es wird am sozialen und politischen Leben teilgenommen. Das täuscht. Für viele ist auch das föderative System immer noch zu kompliziert. Das hindert daran, effektiv am politischen Geschehen teilnehmen zu können. Und je mehr sie das würden, desto demokratischer, objektiver können sie auch die Verhältnisse in der Türkei beurteilen.

Woran machen Sie das fest?

Wir haben das Indiz, dass die AKP-Regierung im Ausland, auch in Deutschland, in der Vergangenheit viel mehr Wähler mobilisieren konnte als die demokratische Opposition. Die Menschen hier bleiben außen vor, sowohl gegenüber der deutschen Politik als auch der türkischen. Sie sind nicht in die Lage versetzt worden, kritisch zu hinterfragen. Das kann man nur durch mehr Informationen und Aufklärung und dafür braucht man die differenzierte deutsche Sprache.

Was müsste denn in Köln passieren, damit auch Minderheiten politisch gebildeter werden?

Man muss wirklich eine sehr breite Aufklärungsarbeit machen und sehr fundierte Sprachkurse anbieten, die attraktiv sind und auf diese Bevölkerungsgruppe zugeschnitten werden: Diejenigen, die zu Hause bleiben müssen, auch Hausfrauen. Das ist eine Frage des politischen Willens, auch auf der lokalen, kommunalen Ebene. Leute werden nicht in geeigneter Form angesprochen. Wir und einige andere Organisationen bieten unsere Veranstaltungen immer mindestens zweisprachig an.

Diese Angebote gibt es also bereits.

Ich akzeptiere nicht, dass die Leute die Angebote nicht wahrnehmen – die Angebote werden Ihnen nicht nahegebracht. Man nennt sie bildungsferne Schichten, auch die Deutschen. Ich sage, sie werden der Bildung ferngehalten, nicht in die Lage versetzt, teilzunehmen. Das ist nicht ihre Schuld, sie beherrschen nicht einmal das sprachliche Instrumentarium dafür.

Welche Auswirkung hat es auf Erdogan, dass er die Unterstützung im Ausland verliert? Kann sich das entscheidend auf die Wahl auswirken?

Man rechnet mit ungefähr 1,5, Millionen potenziellen Wählern in Deutschland und etwas über drei Millionen im Ausland. Das entspricht einer mittelgroßen türkischen Stadt und etwa 33 Abgeordneten, das könnte ein erheblicher Faktor werden. Die Stimmen werden sehr ernst genommen und das sehen wir auch in der regen Tätigkeit, wie viele Leute vor der Wahl nach Köln kommen: Nicht nur Abgeordnete, verschiedene wichtige Leute in der Türkei, auch Kolumnisten von regierungsnahen Zeitungen.

Köln ist eine Metropole der türkischen Diaspora.
Osman Okkan, Journalist und Filmemacher

Wieso nach Köln?

Viele politische Gruppierungen aus der Türkei haben ihre Deutschland- oder Europazentralen in Köln, wegen der medialen Bedeutung der Stadt und der geopolitischen Lage. Das gilt auch für DITIB, der 1984 in Köln gegründet wurde, zeitweise von Berlin aus agierte; hier steht die größte Moschee und jetzt ist auch der Vorsitzende hier. Bei vielen alevitischen und kurdischen Organisationen ist dies auch der Fall. Insofern ist Köln eine Metropole der türkischen Diaspora.

Wie gehen die an die Kölner Community heran?

Über Verbände, Nachbarschaftsgruppen und, im Falle von religiösen Organisationen, vor allem über Moscheen. Sie üben unterschwellige Kontrolle aus, religiöse und soziale. Das ist zum großen Teil als Sozialarbeit verschleierte Einflussnahme. Nehmen wir das Beispiel „Gastronomie“: Immer weniger türkische Restaurants schenken Alkohol aus.

Kulturforum verzeichnet mehr politische Partizipation von Wahlberechtigten als in der Vergangenheit

Ich kriege auf der Straße von dem Wahlkampf hier nichts mit, aber er findet ja wahrscheinlich ganz massiv statt.

So soll es auch sein, das sind nunmehr eher Hinterhof-Gespräche, die die Abgeordneten oder andere Parteienvertreter hier führen. In den Konsulaten sind zwar Wahlbeobachter von den drei größten Parteien zugelassen. Aber dort werden nur die Umschläge gezählt, dann werden sie mit dem Flugzeug in die Türkei transportiert, wo die Stimmauszählung stattfindet. Die Propagandatätigkeiten von Erdogan, aber auch auf der anderen Seite, liefen zuletzt sehr rege. Wir hatten noch nie so viele Anfragen, wie man hier wählen kann. Dass die Leute sich bei der Stimmabgabe so partizipieren, finde ich sehr positiv.

Wie wirkt sich denn das Ergebnis der Wahl wiederum auf die Community hier aus?

Das ist eine langfristige Frage. Dass bei der AKP und den Anhängern teilweise Ressentiments gegen Nicht-Muslime und gegen Nicht-Türken geschürt werden, ist ein offenes Geheimnis. Nach außen ist man ach so gründlich für die Integration. Aber im Kern gibt es diese nationalistisch-islamistische Haltung, die unterschwellig sehr breit propagiert wird. Diese Grundstimmung wird sich ändern, wenn die Opposition an die Macht kommt.

Erdogan ist seit über zwei Jahrzehnten an der Macht. Der Schaden ist immens.
Osman Okkan, Journalist und Filmemacher

Es wird langfristig dazu führen, dass man unter der hiesigen Community die „Pro-Europäer” bestärkt, dass man sich für eine offene Auseinandersetzung einsetzt, dass Vorbehalte gegenüber der deutschen Bevölkerung abgebaut werden. Erdogan ist über zwei Jahrzehnten an der Macht. Der Schaden ist immens, nicht nur der wirtschaftliche Schaden, auch das Kollabieren der Institutionen, vor allem des Justizapparats, der Polizei und des Bildungssystems.

Welche Rolle spiele sogenannte Migrantenorganisationen wie das Kulturforum dabei?

Die Sozialarbeit ist sehr wertvoll. Wir bieten auch Rechtsberatung für geflüchtete Menschen. Wir haben seit dem vermeintlichen Putsch 2016 eine Verschärfung der Verhältnisse. Seitdem gibt es ein verstärktes Braindrain aus der Türkei: Wissenschaftler, Journalisten, Politiker auch. Sie fragen bei uns an, noch bevor sie die Türkei verlassen. Denn Köln ist auch ein Zentrum für türkischsprachige Medien. Mit den ersten Arbeitsmigranten hat der WDR auch fremdsprachige Sendungen gestartet: Köln Radyosu ist immer noch ein Begriff. Das war einmal die einzige Informationsquelle für die Türken hier. Köln ist in den letzten Jahren neben Berlin eine Metropole der intellektuellen Diasporageworden – auch wegen der Vernetzung des Kulturforums.

Seit 30 Jahren gibt es das Kulturforum. Wie hat sich Ihre Arbeit in den vergangenen Jahren verändert?

Das Interesse an Kunst und Kultur nimmt zu. Wir merken, dass die Leute sich der Kultur öffnen und sich die Zeit für sie nehmen und merken, dass sie ein Mittel für die Begegnung mit der hiesigen Bevölkerung ist. Die Kultur ist ein Weg, um auf dem friedlichen Wege die Spannungen abzubauen und die Leute einander näherzubringen. Aber es ist auch eine traurige Tatsache, dass in den letzten Jahren aus der Türkei so viele Menschen aus Wissenschaft, Kultur und Politik nach Europa flüchten mussten. Wir arbeiten daran, dass sie zurückgehen können, wenn die Wahlen gut ausgehen, ohne dass sie Verluste erleiden müssen. Wir sind jetzt 30 Jahre alt, und zufällig feiert die Türkische Republik in diesem Jahr 100. Jubiläum. Das wird also ein großes Fest, aber auch eine kritische Würdigung, auch der Republik Türkei.


Osman Okkan floh 1965 als „Staatsfeind“ der Türkei nach Deutschland und engagierte sich seitdem für Völkerverständigung sowie die Aussöhnung türkischer Minderheiten. Okkan arbeitete als Dokumentarfilmer für den WDR und gründete 1983 das Kulturforum Deutschland Türkei in Köln.

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