Volker Kutscher im Interview„Wir sind wieder bei Nazi-Rhetorik“

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Bestseller-Autor Volker Kutscher steht in einem schwarzen Mantel vor dem Neven-DuMont-Haus

Der Kölner Bestseller-Autor Volker Kutscher wird seine Gereon-Rath-Reihe nach dem zehnten Teil beenden.

Der Kölner Schriftsteller Volker Kutscher feiert mit seinen Gereon-Rath-Krimis große Erfolge. Sie dienen als Vorlage für die Serie "Babylon Berlin". Doch nach zehn Teilen soll Schluss sein. Er spricht über die Gründe für das selbstgewählte Ende der Reihe und seine Sorge um unsere Demokratie.

Herr Kutscher, Gereon Rath musste untertauchen und Berlin verlassen, es gibt deshalb mit Charlotte eine neue Hauptfigur im neunten Band ihrer Reihe. Hat Sie Charly als Hauptfigur vielleicht auch deshalb gereizt, weil es natürlich spannend ist, auf Frauenrollen in dieser Zeit zu schauen? Die Frauenbewegung hatte einiges erkämpft, die Nazis machten das zunichte.

Volker Kutscher: Richtig, Charly ist eine der Frauen, die gerade in den Großstädten diese neuen theoretischen Freiheiten nutzten und in Männerdomänen einbrachen, was in der Praxis gar nicht so einfach war. Da musste man schon tough sein, und so eine Frau ist Charly. Daher nimmt sie es den Nazis persönlich übel, dass sie ihr diese Freiheiten wieder nehmen. Sie gehört zu meinen Lieblingsfiguren, weswegen ich sie gerne in einem Roman in den Vordergrund stellen wollte. Da war die Gemengelage jetzt günstig. Es sind ja auch in erster Linie Berlin-Romane, und Gereon Rath ist nun mal nicht mehr in Berlin.

Die meisten Menschen sind keine Helden und wissen nicht immer genau, was richtig oder falsch ist. Wie erschafft man ambivalente Figuren, die keine Abziehbilder sind?

Ich versuche, mich in jede Figur hineinzuversetzen, egal ob sie ein Bösewicht ist oder nicht. Die Bösen halten sich selbst ja nicht für böse, die machen das aus einem bestimmten Grund. Und so haben diese Figuren bei mir, so hoffe ich, immer auch Seiten, wo man durchaus Verständnis für ihr Handeln hat.

Gerade ein Regime wie die NS-Diktatur fördert ja bei manchen Menschen genau die dunklen Seiten zutage.

Wenn Gewalt und Brutalität plötzlich gefragt und gefordert sind, rutschen da immer die Leute rein, die gerne andere quälen. Aber auch da gibt es, wenn man tief wühlt, sicherlich noch Aspekte, wo man erkennt, es ist ein Mensch, auch wenn das manchmal schwerfällt. Wichtiger für mich ist aber, dass in dieser Zeit aus ganz normalen Familienvätern Mörder wurden. Es geht mir um den Moment, wenn die Normalität plötzlich mit dem monströsen Grauen in Berührung kommt. Wie funktioniert es, dass Menschen sich so verändern? Ich will wissen, wie die Zeitgenossen die damalige Zeit erlebt haben, wie sie aus der Froschperspektive aussieht, ohne das Wissen um die Zukunft.

Das deutsche Luftschiff LZ 129 "Hindenburg" geht bei seiner ersten Nordatlantik-Fahrt auf dem Flugplatz im amerikanischen Lakehurst/New Jersey in Flammen auf (Archivbild vom 6.5.1973). Von den 97 Passagieren des Zeppelins kamen 36 ums Leben, außerdem starben 22 Besatzungsmitglieder. Der verheerende Brand markierte das Ende der Zeppelin-Ära.

Das deutsche Luftschiff LZ 129 'Hindenburg' geht bei seiner ersten Nordatlantik-Fahrt auf dem Flugplatz im amerikanischen Lakehurst/New Jersey in Flammen auf. Der Absturz ist auch Thema des neuen Rath-Romans "Transatlantik".

Wie schwer ist es, sich in Menschen einzufühlen, die eine völlig andere Sozialisation haben? Und die eben nicht wussten, wie es ausgegangen ist.

Es ist schwierig, macht aber auch Spaß. Es ist einfach unglaublich interessant. Ich versuche, mich so tief, wie es geht, in die Zeit hineinzubeamen. Die beste Zeitmaschine ist die Tageszeitungslektüre. Man kann in historischen Tageszeitungen versinken und in die Zeit eintauchen. Zu Republik-Zeiten unterscheiden sich die liberalen Blätter kaum von den Nachkriegszeitungen. 1937 ist das anders, da sind alle Zeitungen gleichgeschaltet, auch die einstmals liberalen. Und das ist dann eine ganz miese Art von Journalismus, ein Mittelding aus Verlautbarungen — da werden Nazireden seitenweise abgedruckt — und Gartenlauben-Idylle. Eine ekelhafte Mischung aus Kitsch und Brutalität.

Dennoch hilft die Lektüre?

Auch da kriegt man natürlich die Nachrichtenlage mit. Was ist im Lokalen losgewesen in Berlin? Seien es Verkehrsunfälle, eine Feuersbrunst oder spektakuläre Einbruchs-Serien. Eine Zeitung bildet den Alltag und das Denken ihrer Zeit ab. Ich lese sie immer, bevor ich mit dem Schreiben loslege. Dann bin ich immer noch ziemlich geflasht von diesen Eindrücken, und das hilft.

Fiktion ist eine Form der Lüge, die dazu dient, der Wahrheit näherzukommen.
Volker Kutscher

Wie nah können Sie der damaligen Lebensrealität kommen?

Vieles in meinen Romanen ist Fiktion. Da darf man sich nichts vormachen. Selbst die Figuren, die gelebt haben, sind, wenn sie in meinen Romanen auftauchen, fiktive Figuren, weil sie mit Menschen sprechen, die es nicht gegeben hat. Natürlich versuche ich, diese Figuren so gut wie möglich nachzubilden und ihnen gerecht zu werden. Aber es ist Fiktion, und das heißt, ich erfinde etwas, ich lüge also. Fiktion ist jedoch eine Form der Lüge, die dazu dient, der Wahrheit näherzukommen.

Sie haben früher sehr umfangreiche Exposés gemacht, was die Handlung angeht. Das machen Sie heute nicht mehr. Warum nicht? Entwickelt sich die Handlung erst beim Schreiben?

Die Handlung entwickelt sich tatsächlich beim Schreiben. Das tut sie auch, wenn man ganz genau plottet. Das Schreiben entwickelt eine eigene Dynamik und auch die Figuren haben eine eigene Dynamik. Die melden sich immer dann, wenn es ihnen nicht passt. Wenn man etwas geschrieben hat, was nicht stimmt. Das fängt mit einem Bauchgefühl an. Man merkt, die Figur sträubt sich, das zu machen, was ich mit ihr vorhabe. Nicht umsonst ist es ja kein Kompliment, wenn man sagt, der Roman wirkt aber konstruiert. Das passiert, wenn man zu sehr am Plot klebt. Und da der Plot sich beim Schreiben sowieso immer ändert, spare ich mir das seit dem vierten Rath-Roman. Ich mache ein Setting, habe grobe Möglichkeiten, wo es hingehen könnte. Es ist wie ein großer Nebel, in den ich mich reinschreibe, und mit jeder Szene lichtet er sich ein bisschen. Mir gefallen die Geschichten auch besser, wenn ich es so mache. Sie sind organischer. Sie wachsen von unten wie ein Baum und sind nicht konstruiert wie ein Haus. Romane sollten Bäume sein und keine Häuser.

Jetzt fehlt bis zum Ende der Reihe nur noch ein Roman.

Ja, der allerletzte, zehnte Roman, der 1938 spielen soll. Das wird schon eine Herausforderung, denn es ist ja der Abschluss meines großen Rath-Projektes. Ich habe nichts anderes gemacht, seit ich die Romane angefangen habe. Das nähert sich bald nach 20 Jahren dem Ende, und es soll ein gelungenes Ende werden. Ich werde natürlich immer gefragt, wer denn überlebt. Ich weiß es nicht. Es werden wahrscheinlich noch einige dran glauben müssen, aber grundsätzlich ist das auch fast egal. Selbst wenn alle glücklich rausgehen, muss man sich vor Augen führen, die richtig beschissenen Jahre kommen erst noch, der Krieg und der Holocaust. Und das ist die Zeit, in die ich die Figuren, die meine Roman-Reihe überleben, entlasse.

Ihr Projekt soll rund um die Reichspogromnacht enden. Warum dann? Und ist an der Entscheidung noch zu rütteln?

Das war der einzige mögliche Zeitpunkt, wenn man nicht unendlich weiterschreiben, aber auch nicht zu früh aufhören will. Ich hatte tatsächlich am Anfang ein sehr grobes Konzept für die Rath-Reihe. 1933 ist der Wendepunkt, da wird alles anders. Aber eben auch nicht von jetzt auf gleich. Das ist genau das, was ich zeigen will. Es war eine Entwicklung. Die Idee war, ich mache vier Romane in der Republik, die langsam zerbröselt, und vier Romane in der Diktatur, die sich nach und nach etabliert. Ich bin dann im Jahr 1936 rausgekommen. Olympia wollte ich auch noch mitnehmen, das ist eine tolle Kulisse für den Roman. Aber ich musste noch weitererzählen.

Warum?

Ich kann erst aufhören, wenn wirklich der letzte Schritt gegangen ist, der endgültige Zivilisationsbruch. Und das ist die Pogromnacht. Da ist ganz klar, dass das Ausschließen der Juden und aller „Nichtarischen“ aus der vielbeschworenen Volksgemeinschaft in letzter Konsequenz zu deren Ermordung führt. Das muss man erzählen. Der zweite Punkt ist, dass der Krieg trotz aller Friedens-Beteuerungen der Nazis ja da schon klar war. Hitler wollte den Krieg, er hatte ihn nur noch nicht bekommen. Der weitere Weg ist vorgezeichnet. Ich will erzählen, wie es zu Krieg und Shoa kommen konnte, ich will nicht die Katastrophen selbst erzählen.


Volker Kutscher (59) studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte und arbeitete als Redakteur, bevor er die Krimireihe über den Kommissar Gereon Rath entwickelte, die ein großer Erfolg wurde. Sie diente als Vorlage für die Serie „Babylon Berlin“. Gerade ist der neunte Band „Transatlantik“ (Piper, 592 Seiten, 26 Euro) erschienen.


Was haben Sie aus Ihrer intensiven Beschäftigung mit dieser Phase der deutschen Geschichte gelernt? Was sagt sie uns für heute?

Es sagt uns, was alles möglich ist. Die Menschen haben es damals auch nicht für möglich gehalten, was für ein Monster das Dritte Reich werden würde. Dass es so eskaliert ist, bis zum Holocaust und Krieg, haben auch die Zeitgenossen nicht vorhergesehen, die die Demokratie nicht wollten. Nichts sagt uns, dass so etwas nicht nochmal möglich ist. Die Demokratie ist davon abhängig, dass alle oder zumindest möglichst viele mitmachen und auch dafür kämpfen.

Diese Jahre zeigen auch, wie zerbrechlich Demokratien sein können.

Wir waren ja immer ein bisschen naiv. Wir dachten, wir haben nach der Nazizeit die stabile Demokratie der Bundesrepublik mit dem Grundgesetz. Wir haben aus den Fehlern der Weimarer Republik gelernt. Das stimmt durchaus, die Bundesrepublik ist stabiler, aber dennoch fragil. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Es ist nicht so, als hätten wir es endlich geschafft und könnten uns auf dem Erreichten ausruhen. Ich habe auch lange gedacht, es geht nur darum, unsere Demokratie zu verbessern. Dass sie als Ganzes in Gefahr geraten könnte, hätte ich mir nicht träumen lassen, aber in solchen Zeiten leben wir heute. Durch ihre Geschichtsvergessenheit merken viele Menschen gar nicht, dass sie antidemokratisch unterwegs sind. Unsere Demokratie wird von innen wie außen bedroht. Das sollte man wahrnehmen. Wir müssen erstmal erkennen, was wir daran haben - bei allen Mängeln. Wir müssen kämpferischer und wacher sein und aufpassen, dass uns das nicht vor die Hunde geht.

Wie sehr beunruhigt es Sie, dass sich Tabugrenzen im politischen Diskurs verschieben und Dinge sagbar sind, die lange Zeit unsagbar waren?

Ganz klar sind wir da wieder bei Nazi-Rhetorik. Das wird ausprobiert, ein bisschen und noch ein bisschen mehr. Und dann sagt man, das sei nicht so gemeint gewesen. Es ist natürlich völlig heuchlerisch. Das verfängt bei Menschen, die nicht wissen, dass die Nazis damals schon so geredet haben, und das ist übelst. Mit Worten fängt es an. Worte bestimmen das Denken, das Denken bestimmt das Handeln. Da sollte man von vornherein gegenhalten. Auch im Alltag ist da Zivilcourage gefordert.

Ich sehe momentan die Gefahr, dass die Menschen wieder irgendwelchen Rattenfängern auf den Leim gehen.
Volker Kutscher

Es wird immer wieder die Frage gestellt, ob die 2020er Jahre mit der Situation in den 1920er Jahre vergleichbar ist. Ist es falsch, solche Vergleiche anzustellen?

Es ist jedenfalls nicht sonderlich hilfreich. Und so fatalistisch zu sagen: Diese 20er Jahre werden genauso verlaufen wie damals die 20er, halte ich sogar für gefährlich, denn das würde ja heißen, man hätte den Kampf schon aufgegeben. Geschichte bringt einem keine konkreten Rezepte, wie man die Probleme der Gegenwart bewältigen kann, weil wir heute vor ganz anderen Herausforderungen stehen als damals. Aber sie kann dabei helfen, dass wir dieselben Fehler nicht noch einmal machen. Ich sehe momentan die Gefahr, dass die Menschen wieder irgendwelchen Rattenfängern auf den Leim gehen. Auch die Nazis waren mehrheitsfähig. Das ist ja das Erschreckende, dass Diktaturen mit Versprechungen Mehrheiten gewinnen. Das sieht man gerade wieder in der westlichen Welt. Die Leute glauben den Mist und merken nicht, dass es letzten Endes faschistoide Dinge sind, die ihnen da versprochen werden.

Lassen Sie uns über „Babylon Berlin“, die Serien-Adaption ihrer Roman-Reihe, sprechen. Stört es Sie nicht, dass viele Leser Ihrer Romane nun die Serien-Darsteller vor Augen haben und sich kein eigenes Bild machen?

Also ich selber habe dieses Problem nicht. Ich habe ein ganz anderes Bild von Gereon und Charlotte als die Fernseh-Welt, die hat sich ja auch handlungstechnisch sehr entfernt von den Romanvorlagen. Man muss die beiden Welten einfach voneinander trennen, dann kann man auch beides genießen. Ich merke immer wieder, dass diejenigen, die meine Romane schon kennen und die Fernsehserie sehen, ein bisschen enttäuscht bis entsetzt sind, was etwa aus Charlotte geworden ist. Grundsätzlich habe ich nichts gegen Änderungen, wenn eine Geschichte adaptiert wird, ich ärgere mich aber, wenn die Änderungen schlechter sind als die Romanvorlage. „Babylon Berlin“ hat beides. Man kann sich schon mal ärgern, man kann sich aber oftmals auch freuen.

Apropos Ärgern. Es gab große Kontroversen um den Gereon-Rath-Darsteller Volker Bruch wegen der Aktion #allesdichtmachen und seines Mitgliedsantrags bei einer Querdenker-nahen Partei. Wie gehen Sie damit um?

Ich finde es sehr schwierig, über Volker Bruch zu urteilen, wenn man nicht mit ihm darüber gesprochen hat. Mir fällt immer häufiger auf, dass viele Leute, die eigentlich gar nicht mitreden können, es dennoch tun und dann sehr unreflektiert Menschen in eine Ecke stellen, in die sie vielleicht nicht reingehören. Diese große Flut von Vorverurteilungen finde ich gefährlich. Ich teile die Ansichten von Volker Bruch nicht, ich fand auch die Aktion #allesdichtmachen dämlich. Aber deswegen über ihn zu urteilen und zu fordern, er darf Gereon Rath nicht mehr spielen? Ich mag das Wort Cancel Culture nicht, weil es gerne von Leuten verwendet wird, die einfach nur nicht damit umgehen können, dass andere eine andere Meinung haben als sie. Aber wenn Forderungen Richtung Berufsverbot ausgesprochen werden, geht das zu weit. Solche Empörungswellen sind nicht gut für unsere Debattenkultur.

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