WDR-RundfunkchorDas planen die neuen Leiter

Nicolas Fink vor dem Kölner Schokoladenmuseum
Copyright: Csaba Peter Rakoczy
- Der WDR-Rundfunkchor hat mit Nicolas Fink einen neuen Dirigenten und mit Simon Halsey einen Kreativdirektor.
- Was planen die beiden mit dem Kölner Profiensemble? Wie sollte ein Chor klingen? Und was macht eigentlich ein musikalischer Kreativdirektor?
- Unser Musikkritiker hat nachgefragt.
Köln – Seine mentale Verfassung in diesem Jahr beschreibt Nicolas Fink, seit dieser Spielzeit als Nachfolger von Stefan Parkman Chefdirigent des WDR Rundfunkchores, als Abfolge mehrerer Stufen: „Im März kam mit dem Lockdown der große Schock, dann herrschte monatelang Frust, und jetzt gibt es hier in Köln für mich einen neuen Anfang.“ Selbstredend weiß der Schweizer Musiker, dem man im Gespräch seine Herkunft nicht anhört („ich lebe ja auch schon seit über zehn Jahren in Leipzig“), dass auch dieser Anfang bei allem Zauber im Zeichen der Corona-Krise steht: „Aber sie fordert auch dazu heraus, neue Wege zu gehen, ein neues Repertoire zu eröffnen. Und man lernt die einzelnen Kollegen im Chor einfach besser kennen.“
Fink versucht in der Krise die Herausforderung zu sehen
Am Freitag (20.15 Uhr) macht Fink in seinem Einstandskonzert die Probe aufs Exempel: In Sankt Aposteln führt er mit dem WDR Chor eine „Anti-Pest-Messe“ des römischen Barockmeisters Orazio Benevoli auf – mit vier corona-kompatibel im Raum verteilten Klanggruppen.
Fink ist sich klar darüber, dass die Corona-Krise im Musikbereich zumal die Chorszene hart trifft: „Vor allem die in Deutschland sehr starke freie Szene. Viele freie Musiker mussten bereits aufgeben, und es werden auch nicht alle beruflich überleben.“ Dass die reiche hiesige Kulturlandschaft irreparablen Schaden nehmen könnte, ist dem Schweizer bewusst – auch wenn sein Profichor und er dank öffentlicher Finanzierung davon weniger betroffen sind. Für ihn ist es jetzt vor allem wichtig, „wieder ans Singen zu kommen, mit analogen wie mit digitalen Formaten. Das Bedürfnis ist allgemein da und der monatelange Entzug ernstzunehmen.“
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Die Beziehung zwischen ihm und dem 40-köpfigen WDR-Chor ist, so Fink, eine alte: „Ich habe ihn vor etwa zehn Jahren kennen gelernt und immer wieder dirigiert, bin dann allerdings zum Berliner Rundfunkchor gegangen, habe freischaffend gearbeitet.“ Und jetzt hat er die Gelegenheit halt spontan ergriffen: „Ich kenne den Chor, kenne Stärken und Schwächen – es ist der ideale Chor für mich.“
Der Chor hat auch seine Schwächen
Schwächen? Nun ja, Fink weiß, dass das Eliteensemble vor einigen Jahren eine Qualitätskrise durchmachte, die indes „durch Parkmans konsequente Aufbauarbeit überwunden wurde“. Und das strukturelle Problem von Rundfunkchören – die Mitglieder bleiben dort bis zum Erreichen der Altersgrenze – ist ihm auch geläufig: „Mitunter entwickelt sich eine Stimme in der zweiten Lebenshälfte nicht so, wie man sich das vielleicht wünscht.“ Dann sei die Frage: „Wie bette ich das ein? Welche Hilfestellungen biete ich?“ Diese zu geben, habe er als ausgebildeter Bariton auch gute praktische Voraussetzungen. Indes gehe es nicht nur den stimmlichen Aspekt: „Ich habe es am deutschen System schätzen gelernt, dass die Sänger eine musikalische Reife und Erfahrung mitbringen, die junge Sänger einfach nicht haben.“ Man müsse mit dem Instrument arbeiten, das man vor sich habe, und eben nicht nur das stimmliche, sondern auch das musikalische Potenzial anzapfen. Es gelte, eine Balance herzustellen, auf dass sich „die Sänger in meinem Chor sicher und ermutigt fühlen“.
Was „macht“ Fink am WDR Chor „an“? „Er entspricht meiner Klangästhetik.“ Genauer: Fink mag seine Fähigkeit, „von einem romantischen Grundsound aus groß aufzumachen, ja ins Extrem zu gehen“. Tatsächlich sei das Ensemble von Haus eher in der Romantik als in der Alten Musik beheimatet, vor allem aber flexibel und „generalistisch“, das heißt: in der Lage, je nach Werk unterschiedliche Stilanforderungen zu bedienen.
Weg von dogmatischen Vorstellungen, wie ein Chor zu klingen hat
Lange Jahre sei ja unter dem Einfluss der historischen Aufführungspraxis das „körperliche Singen“ mit dem „großen romantischen Sound“ „etwas verpönt“ gewesen. Fink: „Jetzt gehen wir wieder in eine andere Richtung“, verabschiedet habe man sich von dogmatischen Vorstellungen, „wie ein Chor zu klingen hat“.
Finks Agenda ist einstweilen pandemiebedingt limitiert – vieles, was er gerne machte, geht nicht. Und wenn er freie Hand hätte? „Dann würde ich schon gerne einen Schinken wie Parrys Songs of Farewell machen – ich mag einfach dieses Spiel mit Klang und Farbigkeit und Stimmgebung“. Englische, französische und deutsche Hoch- und Nachromantik – ihr gehört Finks besondere Liebe.

Simon Halsey
Copyright: WDR
Nicht nur Fink tritt in diesen Tagen ein neues Amt beim WDR Chor an, sondern auch sein früherer Lehrer und jetziger Kollegenfreund, der britische Chordirigent Simon Halsey, der sich – unter anderem als Chefdirigent des Berliner Rundfunkchores – zumal durch seine pädagogische Arbeit in Mitsing-Projekten großes internationales Renommee erworben hat.
Für solche Projekte, von denen er bereits einige mit dem WDR Chor absolvierte, hat ihn der Sender jetzt als „Kreativdirektor“ engagiert. Halsey wird nicht permanent in Köln arbeiten, aber, wie er im Gespräch sagt, eben für solche Vorhaben und für neu zu entwickelnde Konzertformate an den Rhein kommen: „Ich bin jetzt 62 und frei, Neues zu machen – nicht mehr Beethovens Neunte, die habe ich 149 mal gemacht.“
Zu den Personen
Nicolas Fink, 1978 in der Schweiz geboren, wurde in seinem Heimatland als Sänger und Chordirigent ausgebildet. Von 2010 bis 2015 war er Chorassistent beim Berliner Rundfunkchor. Er leitet den Schweizer Jugendchor und ist Chordirektor beim Schleswig-Holstein-Musikfestival. Mit Beginn der Spielzeit 2020/2021 ist er Chefdirigent des WDR Rundfunkchores, mit dem er als Gastdirigent seit 2011 zusammenarbeitet.
Simon Halsey, 1958 in London geboren, erhielt seine Ausbildung in Oxford und Cambridge. Seit 1982 ist er Chordirektor des City of Birmingham Orchestra, von 2001 bis 2015 war er Chefdirigent des Berliner Rundfunkchores. Seit 2012 arbeitet er eng mit dem London Symphony Orchestra zusammen. Bekannt wurde Halsey zumal durch seine außergewöhnlichen Kooperationsprojekte mit Profi- und Laiensängern. Seit Beginn dieser Spielzeit ist er „Kreativdirektor“ beim WDR Rundfunkchor. (MaS)
Chorkonzerte mit tausend Teilnehmern schweben Halsey auch in Köln vor – wobei ihm klar ist, dass auch dies derzeit nicht geht, jedenfalls nicht analog. Immerhin wird er vom 28. September bis zum 3. Oktober jeden Abend von 19 Uhr an Mendelssohns Sinfoniekantate „Lobgesang“ zum Start der WDR-Reihe „Sing Mit!“ in virtuellen Proben einstudieren. Mit dabei: der WDR Chor und jeder, der will.
Darf man Halsey ob seines „Let the people sing“-Engagements, seiner Überzeugung, dass große Kunst „für alle“ da ist, als musikalischen Sozialisten bezeichnen? Ganz ablehnen will er eine solche Bezeichnung jedenfalls nicht: „Als Oxford- und Cambridge-Absolvent war ich konservativ, aber als ich älter wurde, kämpfte ich für die Kunst – da bin ich immer mehr Sozialist geworden.“ Halsey hasst nach eigenem Bekenntnis auch „England in den Zeiten von Brexit“ und arbeitet gerne in Deutschland: „Hier ist die Luft so frei.“