Chorleiter bangen um Bestand in Köln„Auf einmal das gefährlichste Hobby der Welt“

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Der Jugendchor St. Stephan bei der Premierenprobe im Parkhaus

  • Die Chorleiter bangen um den Bestand der Chöre in Köln.
  • In der Corona-Krise ist gemeinsames Singen fast unmöglich.
  • Ein Gespräch mit Domkapellmeister Eberhard Metternich, Regionalkontor Wilfried Kaets und Chorleiter Michael Kokott über virtuelle Proben, zu restriktive Auflagen und Sehnsucht nach Gefühl.

Köln – Vor einem halben Jahr ist von heute auf morgen das Singen verstummt. Wie war das für Sie als Chorleiter? Kokott: Für mich ist eine Welt zusammengebrochen. Plötzlich war Singen das Schlimmste, was man machen konnte. Ich bin richtig in ein Loch gefallen. Ich hätte ja in der Zeit kreativ werden können. Aber ich war eher lethargisch und habe mich gefragt, wofür ich etwas komponieren sollte, von dem ich nicht weiß, ob ich es je aufführen werde.

Kaets: Singen ist das gesündeste Hobby der Welt. Auf einmal hatte man das gefährlichste Hobby der Welt. Es musste alles in einer großen Radikalität runtergefahren werden, weil wir eine hohe Verantwortung für die Sänger haben. Wir konnten ja nicht sagen, wir testen das jetzt erst mal mit den Abständen.

Wilfried Kaets

Wilfried Kaets,  Regionalkantor für das rechtsrheinische Köln und Leiter des Rochuschors in Bickendorf

Viele Chöre sind dann schnell ins Online-Singen eingestiegen. Wie ist Ihre Erfahrung: Geht virtueller Chor? Und kann dieser das analoge gemeinsame Singen ersetzen?

Kaets: Wir haben sehr schnell begonnen zu experimentieren und nutzen für unsere Proben verschiedene Plattformen wie Zoom oder arbeiten mit Probe-Livestreams. Zudem sind wir für den Landesmusikrat NRW Testchor in dem bundesweiten Programmierprojekt „Digital Stage“ mit dem Ziel, online und ohne Zeitverzögerung zu musizieren. Aber man muss ehrlich sagen: Wir sind technisch noch nicht da, wo wir sein wollen. Im Grunde kann digitales Proben das analoge nicht ersetzen.

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Metternich: Ich habe erst spät angefangen, digital zu proben. Das ist natürlich rudimentär. Trotzdem hat es mich nach sieben Wochen Lockdown sehr berührt, meine Jungs auf dem Bildschirm wiederzusehen. Gleichzeitig war ich erschrocken: Schon in der kurzen Zeit waren von meinen 90 Knaben 16 stimmlich weggebrochen. Das ist ein besonderes Phänomen bei den Jungs. Wenn sich die Stimme ändert, kann man das eine ganze Zeit auffangen, wenn man im Training ist. Durch den Lockdown und das reduzierte Singen kamen nun viele früher in den Stimmbruch. Für den Knabenchor ist das existenzbedrohend. Wir müssen uns bei einem Neustart wieder ganz neu bilden und finden.

Domkapellmeister Eberhard Metternich

Domkapellmeister Eberhard Metternich, Leiter des Kölner Domchores und des Vokalensembles

Kokott: Ich habe es gar nicht erst versucht. Mit 80 Leuten auf dem Bildschirm, das geht nicht. Man hört sich nicht gegenseitig und hat zusätzlich die Zeitverzögerung. Deshalb haben wir, um den Zusammenhalt zu stärken, kleine Videos gemacht. Etwa das Halleluja von Cohen zu Ostern.

Kokott

Michael Kokott leitet unter anderem den Jugendchor Sankt Stephan und die Lucky Kids.

Kaets: Schwierig ist, dass keiner weiß, wie lange es dauern wird und wie die Sänger damit umgehen, wenn es wieder möglich sein wird. Viele gehören ja zu Risikogruppen. Es gibt schon die Sorge, dass wir vielleicht nie wieder so zusammenkommen werden wie vor Corona.

Kokott: Auch bei den Jugendlichen ist die Gefahr, dass alles auseinanderbricht. Irgendwann gibt es andere Hobbys und der Chor ist nicht mehr wichtig.

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Seit Juni ist das Singen unter bestimmten Bedingungen wieder möglich: Mit sieben Quadratmetern Raum pro Person – vier Metern Abstand zum Vordermann, drei Metern zu beiden Seiten. Wie klappt das?

Metternich: Seit das möglich ist, haben wir versucht, unter den Bedingungen unsere Säle zu nutzen. In die Aula, in der wir proben und in die 125 Leute reinpassen, bekomme ich unter Abstandsregeln neun Jungs unter. Ich probe mit elf Kleingruppen. Aber uns fehlt das Chorgefühl. Wenn man gewohnt ist, mit 80 oder 100 zu singen, ist bei einer Kleingruppe auf Abstand jeder Solist. Das ist das größte Manko. Die Jungs hören sich gegenseitig nicht. Es ist schön, dass man zusammenkommt. Aber zielgerichtetes Proben ist das nicht.

Kokott: Wir proben mit geteilten Ensembles in der Kirche Sankt Stephan in Lindental. Aber natürlich ist das für einen Laienchor schwierig, wenn man seinen Nebenmann nicht hört. Jetzt haben wir getestet, in einem Parkhaus zu proben: Die Fläche ist groß, ich bekomme den kompletten Chor unter, es gibt eine natürliche Durchlüftung und man hat ein Dach über dem Kopf. Wir versuchen also, irgendwie kreativ zu werden.

Das heißt: Weder virtuell noch mit sehr großem Abstand ist Chorsingen möglich. Alle möglichen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens sind gelockert worden. Was fordern Sie, damit die Chormusik angemessen durch die Pandemie kommt?

Metternich: Wir sorgen uns um den Bestand der Chöre und haben das Gefühl, dass die Lobby des Chorgesangs nicht vernünftig vertreten wird. Man darf mit 30 Leuten in der Halle Fußball spielen und dabei schreiend durch die Halle rennen. Da atmet man tiefer als beim Singen. Meine Jungs dürfen zum Fußball aber nicht singen? Das ist keinem zu vermitteln. Wir fordern, dass die Abstände auf 1,5 Meter zur Seite und zwei Meter nach vorne verringert werden. Mit dem Anliegen haben wir Domkapellmeister der fünf Kathedralen in NRW uns auch an Ministerpräsident Armin Laschet gewandt.

Kokott: Bei je zwei Metern nach vorne und zur Seite hätte man wieder ein Chorgefühl und das Raumproblem wäre gelöst. Das entspricht auch der Forderung des Deutschen Sängerbundes. In Bayern ist das schon seit zwei Monaten erlaubt. Dort gab es seit zwei Monaten keinen einzigen Rückfall. Berlin ist vor zwei Wochen nachgezogen.

Metternich: Natürlich birgt das Verringern der Abstände Risiken. Aber es bleibt eine Abwägungssache. Genauso wie im Sport, den man nicht komplett einstellt, muss das beim Singen möglich sein. Man kann uns ja auferlegen, das genau nachverfolgbar zu machen, wer wo gesessen hat, so dass man wieder mit 24 oder 30 Sängern proben kann.

Kaets: Das zweite Problem ist, dass die Ziele fehlen – also Reisen, Konzerte und Projekte. Alle Chöre sind soziale Gruppen, die auch von Zielen und Auftritten leben. Ich muss die Leute ja nicht nur halten, sondern auch motivieren. Ich muss jetzt kleinere Ziele finden, die ich über digitales Musizieren definieren kann und die wir über Zoom proben. Dafür hat mein Kollege Thomas Roß eine einzigartige Aerosol-Absauganlage gebaut, die uns erlaubt, mit acht Sängern live und nebeneinander in der Kirche zu musizieren. Auch die nutzen wir regelmäßig sowohl für Proben- als auch Auftrittsstreams etwa von Gottesdiensten. Metternich: Meine Sänger fragen sich, wofür wir proben. So lange es keine Konzerte oder Auftritte gibt, worauf man hinarbeitet, können wir noch so viele Parkhäuser bevölkern oder Zoom-Projekte machen. Das ist alles nur Just for Fun. Die Jungs brauchen Ziele.

Was geht verloren für die Kölner Chormusik, wenn wir noch ein halbes Jahr so weitermachen?

Kaets: Weil Ziele fehlen, erlebe ich viele Chorleiter und Mitglieder zunehmend resigniert. Am Anfang war man frustriert, jetzt resigniert. Das ist viel gefährlicher. Die Gefahr ist, dass da was wegbricht und wir viele verlieren. Wir haben über 400 Chöre und Musikgruppen in Köln. Das sind Zehntausende, die gemeinsam Musik machen und sozialen Zusammenhalt erleben.

Was passiert mit einer Gesellschaft, die nicht mehr singt? Zumal in Köln, wo das gemeinsame Singen ja quasi zur DNA gehört...

Metternich: Ihr geht eine ganz wichtige emotionale Dimension verloren. Musik ist etwas, das man mit seinen Sinnen aufnimmt und das in eine Emotion mündet. Als ich nach dem Lockdown im Dom das erste Mal in einem Gottesdienst wieder live ein Vokalquartett gehört habe, ist es mir kalt den Rücken runtergelaufen. Auch als Zuhörer saugt man das nach dieser langen Zeit auf. Beim Jubiläumsfest für die Bläck Fööss im Rheinauhafen haben die Leute spontan mitgesungen, als die Fööss ein Lied gespielt haben – obwohl der Moderator ausdrücklich gebeten hatte, wegen Corona nicht zu singen. Das Bedürfnis der Menschen war nach all den Monaten zu stark...

Kaets: Ich glaube, über das Singen als gemeinschaftliches Tun entsteht etwas, das über einen selbst hinaus deutet und das eine große innere Befriedigung schafft. Man spürt, dass die Summe dessen, was man tut, viel mehr ist als die Addition aller einzelnen. Ich schaffe etwas mit meinem Anteil, das zu einem größeren Ganzen wird. Das ist ein sehr verbindendes, motivierendes Gefühl, das sozialen Zusammenhalt schafft.

Kokott: Das funktioniert eben nicht über die Zweidimensionalität des Internets. Sondern nur durch 3D: dadurch, dass ich den anderen sehe und spüre.

Sie alle haben langfristig angelegte Projekte und Veranstaltungen. Wann werden Konzerte realistischerweise wieder möglich sein?

Metternich: Bis einschließlich Ostern 2021 werden wir im Dom keine Chorkonzerte veranstalten. Das wäre unrealistisch. Auch unser Heiligabend in der Philharmonie mit 250 Kindern auf der Bühne ist dieses Jahr undenkbar.

Kaets: Meine Projektplanungen gehen bis 2023/24. Da ist jetzt alles erst mal auf Eis gelegt. Ich sehe große Gefahren, wenn alles außer Discos mit Konzepten unterfüttert wieder stattfinden darf und unser Bereich ausgeklammert wird. Das ist existenzbedrohend für die freien Sänger, Musiker und Gruppen, aber auch für die hauptberuflichen.

Wie wird es sein, wenn Sie das erste Mal wieder mit einem ganzen Chor singen können?

Kaets: Ich werde weinen.

Metternich: Das kann ich mir für mich auch vorstellen.

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