Poetica mit Working Class PoetryDer größte lebende Dichter Australiens besucht Köln

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Lionel Fogarty in der Poetica (Working Class Poetry)

Lionel Fogarty in der Veranstaltung „Working Class Poetry“ der Poetica

Die Poetica brachte am 20.04. „Working Class Poetry“ auf die Bühne. Auch Lionel Fogarty kam für die Veranstaltung nach Köln, der von John Kinsella als größter lebender Dichter Australiens bezeichnet wurde.

Eigentlich dürfte es nicht überraschen, dass es auch eine Dichtung von unten gibt. Lyrik ist alltäglich. Sie findet sich in der Werbung, im Fußballstadtion und dort, wo eine Pflegerin ihrem Kind etwas zum Einschlafen vorsingt. Trotzdem gilt Poesie nach wie vor als ein Ausdrucksmittel der gebildeten Elite. Und das ist sie auch, schließlich ist Sprache Macht. 

Das heißt aber nicht, dass sie nicht vom Proletariat erobert werden kann. Zur Veranstaltung mit dem Titel „Working Class Poetry“ in der Kölner Stadtbibliothek waren gleich vier internationale Dichterinnen und Dichter eingeladen, die das bewerkstelligen. Die chinesiche Dichterin Zheng Xiaoqiong, die über ihr Leben als Fabrikarbeiterin schreibt, wurde digital zugeschaltet. Der Moderator und Kurator des Festivals, Christian Filips, erklärte, die chinesische Regierung habe Xiaoqiong wegen ihres kritischen Blicks auf die Zustände in den Fabriken Reisebeschränkungen auferlegt. Anwesend waren der australische Dichter Lionel Fogarty, der haitianische Dichter James Noël und die indische Dichterin Sukirtharani. Philipp Plessmann und Katharina Schmalenberg trugen die Werke in deutscher Übersetzung vor.

„Working Class Poetry“ zeigt in Köln Lyrik mit Gewissen

Die unterschiedlichen Perspektiven der Dichterinnen und Dichter haben einiges gemeinsam. Sie schreiben Lyrik mit Gewissen, verschaffen marginalisierten Gruppen eine Stimme und scheuen dabei nicht vor Drastik zurück. „Ich spreche diese stachelige, geölte Sprache aus Gusseisen, die Sprache schweigender Arbeiterinnen und Schrauben, festgezogene Sprachen“, beschreibt Xiaoqiong in einem ihrer Gedichte, „eine Sprache abgeschnittener Finger“.

Ihre Poesie sieht keinen Widerspruch zwischen Kunstsinn und Aktivismus. Das gilt auch für Fogarty, der für die Murri-Community spricht und seine Gedichte auch auf Demonstrationen vorliest. Er setzt sich für den Erhalt indigener Sprachen ein und wurde von John Kinsella als der größte lebende australische Dichter bezeichnet. Fogarty erzählt im Gespräch auf der Bühne: „Wir werden für unsere Bräuche in dieser modernen Zeit kämpfen und unsere Sprache zurückholen. Ich glaube, Poesie hilft uns dabei, aber Politik tut es nicht“.

In seinen Gedichten versuche er, die englische Sprache zu dekolonisieren. Sprache sei ein Gesetz, „und ich versuche, das zu zerstören“. Dieses Missverhältnis zwischen dem Künstler und der Sprache thematisiert er in seinem Gedicht „Tired of writing“: „Manchmal denke ich nicht viel nach. Beim Schreiben gebrauche ich ein Mittel – nicht meins. Verzeiht, wenn es nicht hinhaut. Ich seh halt Wörter, die nicht akzeptabel scheinen, aber ganz genau mein Träumen meinen.“ Ob dieser Prozess überhaupt poetisch ist, lässt Fogarty dabei offen. „Die Schreibfähigkeit in die Hand nehmen – manche nennen das Poesie“, schreibt er in „Tired of Writing“. „Für mich ist es mehr ein Machen.“

James Noël berichtet auf der Bühne der Poetica von seiner Entdeckung kreolischer Poesie

Die Dichterinnen und Dichter bedienen sich auch des Vulgären, wie ein Gedicht von James Noël zeigt. „Drei kleine Ärsche am Ufer des Flusses. Drei Militärärsche in kackbrauner Uniform. Lassen Hemd und Hose, Unterhose und alles Menschliche fallen, um den Wasserstand in den Augen der Bauern zu erhöhen. Drei kleine Ärsche.“ Bei ihm wird das Handwerk, besonders der Beruf des Glasers, zum poetischen Konzept. Er trägt seine Werke auf Französisch vor. Auch ohne die Sprache zu verstehen, lohnt es sich, die Gedichte auch im Original von ihm zu hören. In seinem Vortrag zieht er alle Register: Donnert mit seiner mächtigen Stimme drauflos, flüstert, singt, spielt mit verschiedenen Rhythmen.

Noël schreibt dabei auf Französisch und haitianischem Kreol. In Haiti würden manche die Nutzung des Französischen immer noch als die Sprache der Sklaverei betrachten, andere sehen darin etwas, dass sie den Kolonisten entrissen hätten. Kreolische Poesie habe Noël erst entdeckt, als er auf die Werke George Casteras stieß. Seine Ausführungen dieses Widerstreits geraten selbst zur Poesie: „In meinem doppelten Dichterkörper fühlte ich mich als ein schlechter Dichter im Kreol. Eines Abends habe ich viele Gedichte in Kreol im Traum geschrieben. Das schien mir die Versöhnung meiner rechten Hand mit der Linken zu sein.“

Sukirtharani widmet ihre Gedichte den Dalit und Opfern von Vergewaltigung

Die indische Dichterin Sukirtharani betont den Feminismus ihrer Poesie. Sie spricht in ihrem Werk für die Dalit, die sogenannten „Unberührbaren“. Mehrere ihrer Gedichte widmet sie Frauen, die in Indien Gruppenvergewaltigungen zum Opfer fielen. „Ich schreibe diese Gedichte mit Nachdruck“, erzählt sie. „Es werden so viele Gräueltaten im Namen des Kastensystems ausgeübt.“

Der Feminismus der Dalit habe eine Bewegung mitbegründet, die Verbesserung für die Menschen bei der Regierung einfordert. Diese Forderungen finden sich auch in ihren Gedichten wieder. „Wir sind die Müllabführ, entsorgt eure Scheiße selbst“, spricht Sukirtharani aus. „Wir heiraten andere Kasten – fickt euch doch selbst. Wir schreiben mit an dieser Verfassung. Und wollt ihr das nicht dulden – dann zur Hölle mit euch!“

Poesie als Aktivismus

Die Working Class Poetry ist ohne Frage eine Bereicherung für die Lyrik, und das nicht nur, weil sie authentisch Perspektiven vermitteln kann, die im öffentlichen Diskurs unterrepräsentiert sind. Sie findet auch eine besondere Sprache für die Lebenswirklichkeit einer Mehrheit. Sie kennt einen Pathos, der nicht romantisiert. Das wäre den angesprochenen Themen auch unangemessen, die sich um Armut, Ungerechtigkeit, Rassismus, der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt und Feminismus drehen.

Zuletzt versammeln sich alle Dichterinnen und Dichter auf der Bühne und tragen jeweils ein kurzes Stück vor. Die Ansage ist deutlich: Die Lebensrealitäten mögen unterschiedlich sein, aber ihre Solidarität ist ungeteilt. Sie bekommen tosenden Applaus vom Publikum. Zuvor hatte Fogarty in einem Gedicht aber deutlich gemacht, dass es damit nicht getan ist. „Jetzt wollen alle Werke von Aboriginals, aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Aber wollen sie die Wirklichkeit oder bloß gute, nette Worte, bloß gönnerhaftes Klopfen auf die Schultern?“

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