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Zum Tod von Brian WilsonDer späte Triumph des Beach Boys

Lesezeit 6 Minuten
Brian Wilson sitzt im Jahr 2012 am Klavier im Staples Center in Los Angeles.

Beach-Boys-Gründer Brian Wilson ist im Alter von 82 Jahren gestorben. 

Brian Wilson, Gründer und Songschreiber der Beach Boys, ist im Alter von 82 Jahren in Los Angeles gestorben. Eine Würdigung des Pop-Genies. 

Ein nieseliger Februarabend im London. Brian Wilson sitzt allein in der noch leeren Royal Festival Hall am Südufer der Themse und hört Stimmen. „Deine Musik taugt rein gar nichts, Brian. Du bist auf dem absteigenden Ast, Brian.“ Seit ihm sein Vater, ein selbstsüchtiger Haustyrann, als Kind eine Ohrfeige verpasste, ist er auf dem rechten Ohr taub. Manchmal kann er die Stimmen in seinem Kopf deutlicher hören, als seine Mitmusiker auf der Bühne. Deutlicher als seine eigene, brüchige, aber immer noch schöne Stimme. Von der er fürchtet, die Menschen würden sie nicht mehr mögen.

Das war 2004. Am Mittwoch ist Brian Wilson im Alter von 82 Jahren gestorben, seine Familie teilte die Todesnachricht über Instagram. Der Gründer der Beach Boys war an einer Art Demenz erkrankt. Nachdem im vergangenen Jahr seine Ehefrau Melinda im Alter von 77 Jahren gestorben war, stand er unter Vormundschaft.

In seinem Kopf hört Brian bedrohliche Wilson Stimmen

„Wir werden dich töten, Brian“, flüstern die Stimmen. Er hat Angst, Todesangst. In wenigen Minuten soll er der Welt das Werk vorstellen, das ihn Jahrzehnte zuvor aus der Bahn geworfen hat: „Smile“, die Geschichte seiner amerikanischen Heimat, von Ost nach West, von der Landung der Mayflower am Plymouth Rock bis zu den polynesischen Wellenreitern an den Stränden Hawaiis, mit deren Überhöhung – „Surfin’ U.S.A.“,  „Fun Fun Fun“ – Wilsons Karriere begonnen hatte, obwohl er selbst nicht surfen konnte und wollte. Programmmusik mit den Mitteln des Doo-Wop, Rock’n’Roll und Bubblegum-Pop. Die finale Übertrumpfung in einem transkontinentalen Space Race zwischen seinen Streifenhemden-tragenden Beach Boys und Paul McCartneys viel cooleren Beatles.

Die beiden musikalischen Mehrleister, im Abstand von zwei Tagen geboren, spornen sich im Verlauf der 60er Jahre zu immer waghalsigeren Höhenflügen an, zu immer komplexeren Aufnahmen, zu Songzyklen wie der Balladen-Seite von „The Beach Boys Today!“, zu Alben, die gar kein Füllmaterial mehr enthalten, wie „Rubber Soul“. Das wiederum inspiriert Brian Wilson zu seinem kammermusikalischen Meisterwerk „Pet Sounds“, einer Reise durch sein Innenleben, für die er das Studio als eigentliches Instrument des Pop entdeckt. Das subtilste Stück, „God Only Knows“ ist eine entwaffnende Liebeserklärung, ein Gebet und zugleich eine Ballade von der Abhängigkeit. Paul McCartney nennt es sein absolutes Lieblingslied. Bob Dylan fordert, Wilsons offensichtlich perfekte Ohren für die Nachwelt aufzubewahren. Viele Kritiker halten ihn für ein Genie und „Pet Sounds“ für das beste Album der Popgeschichte.

Doch die Zeit rast, Mitte der 60er. Und Wilson rast mit, zur Westentaschen-Sinfonie „Good Vibrations“. An der Single – kleinteilig und weit ausgreifend, psychedelisch ausgeflippt und sagenhaft eingängig – hat er den größten Teil des Jahres 1966 gearbeitet, unendlich viel Studiozeit aufgehäuft. Der Einsatz lohnt sich. Mit seinem sehnsüchtig aufheulendem Elektro-Theremin wird „Good Vibrations“ in den USA zum 13. Top-Ten- und zum dritten Nummer-Eins-Hit der Beach Boys, und im Heimatland des Merseybeats landen die Kalifornier in der Leserumfrage eines Musikmagazins prompt vor den Beatles.

Aber die sind zu viert, eine verschworene Bande, Freunde, die sich gegenseitig den Rücken frei halten. Die Beach Boys sind eine dysfunktionale Familie, gemanagt von Murray Wilson, dem Prügelvater. Während Brians Brüder, Dennis und Carl, sein Cousin und deren Schulfreund um die Welt touren, im Satzgesang die frohe Botschaft von blonden Surfern, braungebrannten „California Girls“ und Straßenrennen in aufgemotzten Ford Thunderbirds verkünden, bleibt Brian Wilson allein in Los Angeles zurück, raucht Joints und schluckt LSD. Nach einem Nervenzusammenbruch im Flugzeug hat er sich aus der frenetischen Reisetätigkeit seiner Band herausgenommen, erschließt stattdessen im Studio musikalisches Neuland. Das von seinen Bandkollegen, allen voran dem stockkonservativen Cousin Mike Love, mit zunehmendem Kopfschütteln quittiert wird.

Brian Wilson hat seinen Flügel in einem Sandkasten gestellt

In seinem Esszimmer hat sich Brian Wilson einen Kasten mit acht Tonnen fein gesiebtem Strandsand aufstellen lassen. Mittendrin sein Flügel. Hier glaubt er, in kindlicher Unbeschwertheit komponieren zu können, während er kiffend Karamelleisbecher frühstückt. Aber er weckt schlafende Monster. Findet sich inmitten der endlosen „Smile“-Sessions verloren auf hoher See oder umzüngelt von Flammen. Während der „Fire“-Sektion seines elementaren Werkes stattet er die Studiomusiker mit Feuerwehrhelmen aus. Das lässt man ihm noch als harmlose Spinnerei durchgehen. Doch als er draußen die Sirenen eines Löschzuges hört – ein Gebäude in der Nachbarschaft ist bis auf die Grundmauern heruntergebrannt –, glaubt er, mit seiner Feuermusik den Brand ausgelöst zu haben.

Aus dem Sandkastenspiel war bitterer Ernst geworden. Er bricht die „Smile“-Sessions ab, mottet die Tonbänder ein, für fast 40 Jahre. Seinem Gegenspieler Mike Love ist das gerade recht, für ihn ist das ganze überspannte Werk nur Dokument von Wilsons Wahnsinn. Die Beatles veröffentlichen ihre Doppelsingle „Strawberry Fields Forever/Penny Lane“, dann „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“. Das Rennen ist verloren, Wilson zieht sich halluzinierend in sein Schlafzimmer zurück. Unten probt seine Band tapfer weiter, wartet auf das orakelhafte Erscheinen ihres halbverrückten Genies, klaubt gierig jeden seiner Songfetzen auf. Der Niedergang vollzieht sich graduell, das „Friends“-Album von 1968 etwa erzählt vom Rückzug, aber tut das ohne Zorn. Wilson wird es später als seine favorisierte Beach-Boys-Platte bezeichnen.

Die Beach Boys posieren in den frühen 60er Jahren mit gestreiften Hemden.

Die Beach Boys in jungen Jahren: (v.l. Carl Wilson, Dennis Wilson, Mike Love, Al Jardine, Brian Wilson.

Schlimmer wird es, als auch noch Kokain ins Spiel kommt und der Vater – den das Ausnahmetalent seines Sohnes nur an sein eigenes Versagen als Songschreiber erinnert – Brian Wilsons Songrechte für lächerliche 700.000 Dollar verscherbelt. „Ich bin ein Korken auf dem Ozean/Schwebend über dem tobenden Meer/Wie tief ist der Ozean?“, singt er im ergreifendsten Song aus diesen Jahren, „’Til I Die“.

Es sind verlorene Jahre und als ihn Ende der 1970er, Anfang der 80er ein selbsternannter Psycho-Guru namens Eugene Landy von den Drogen befreit, begibt er sich nur in die nächste Abhängigkeit, zur nächsten vampirischen Vaterfigur. Dieses zweite Martyrium dauert bis Anfang der 1990er an. Am Ende retten ihn jüngere Musiker wie Andy Paley und Don Was, die ihn als Pop-Gott verehren, und seine zweite Frau Melinda, mit der er fünf Kinder adoptiert und die ihn schließlich überredet, sich seinen größten Ängsten zu stellen und wieder auf Tour zu gehen.  

Jetzt ruft ihn sein Assistent in der Royal Festival Hall, es ist Zeit in die Garderobe zu gehen, das Publikum wird gleich eingelassen. Roger Daltrey von den Who ist gekommen, Paul Weller und Kevin Shields von My Bloody Valentine, selbst ein Eremit der Popgeschichte. Auch Van Dyke Parks ist da, dessen verrätselte Texte für die „Smile“-Songs seinerzeit Mike Love zum Toben gebracht hatten. Wer benutzt schon das Wort „Holocaust“ in der Verlaufsform?

Als es schon dunkel wird im Saal, erscheint endlich Paul McCartney, der alte Konkurrent setzt sich neben George Martin. Das Konzert ist ein Triumph, wenn auch ein später. Die Geschichte kann nicht neu geschrieben werden, aber was bleibt, bleibt - und das ist ein Lächeln: An Brian Wilson wird man sich als Mozart des Pop erinnern, die Qualität des Werks überragt die Tragik seines Lebens um Längen.