LeserbriefeNicht Schulnoten erzeugen Stress, sondern der Umgang mit ihnen

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Auf einem DIN-A4-Blatt sind in zwei Spalten geschriebene Vokabeln mit Rotstift abgehakt. Die erreichte Punktzahl, die zu erreichende Punktzahl und die Note zwei sind ebenfalls rot vermerkt. Den Stift führt die rechte Hand einer Lehrerin, deren Kopf und Oberkörper am rechten Bildrand nur umrisshaft zu erkennen sind.

Lehrerin bei der Korrektur eines Vokabeltests

Die Defizite im Bildungssystem sind vielfältig. Wichtig ist, dass Kompetenz- und Wissenserwerb mit Freude verbunden sind.

Lernen ohne Zwang und Noten – Zensuren fördern das Leistungsprinzip, doch viele Schüler leiden unter dem Druck (24.3.)

Bildungssystem: Wenig Freude beim Lernen und Lehren

Angesichts des Artikels „Lernen ohne Zwang und Noten“ vom 24. März fühlte ich mich in die frühen 70er Jahre zurückversetzt: Das war doch der „Schlachtruf“ der Bildungsenthusiasten der 68er-Bewegung. Geht es jetzt zurück in die 70er Jahre? Ich gehöre zu einer Generation, die sich in endlosen Wochenendseminaren und Nächten den Kopf darüber zerbrochen hat, wie wir erfolgreich „Freude am Lernen“ bei jungen Menschen wecken, wie wir solidarisches Lernen in Gruppen fördern, wie wir die berufliche und gesellschaftliche Wirklichkeit in die Schule holen und so Betroffenheit und Engagement für die sozialen Belange der Gegenwart schaffen könnten.

Unsere gesamte Ausbildung war geprägt von diesen Gedanken sowie von der Frage, wie man endlich wegkommen könnte von der „Eindimensionalität der Noten“, ihrer mangelnden Aussagekraft, und hin zu einer individuellen Würdigung und Förderung jedes Schülers und jeder Schülerin mit seinen oder ihren ureigensten Stärken und Begabungen. Dann holte uns Pädagogen die Wirklichkeit ein, und zwar schneller, als uns lieb war: Die Wirtschaft forderte immer lauter „mehr Leistungsprinzip“ als Vorbereitung auf das wahre Leben, also den Beruf, und die Institution Schule forderte mehr „justiziable Vergleichbarkeit“, also Bewertungen, die auch vor Gericht standhielten.

Also wurden immer mehr Kontrollen eingeführt, Tests, Klassenarbeiten, Klausuren verdoppelt und verdreifacht. Darüber hinaus sollten Lehrer, möglichst nach jeder Stunde, in Listen erfassen, was jeder respektive jede Einzelne zum Unterricht beigetragen hatte, damit man später die „sonstige Beteiligung“ auch gerichtlich rechtfertigen und überprüfen lassen konnte. Diese ganze „Bewertungsorgie“ gipfelte schließlich in internationalen Schulleistungsstudien, wie Pisa und TIMSS, und als sich dabei herausstellte, dass Deutschlands Schulen „nur Mittelmaß“ seien, ging der Druck auf die Schulen erst richtig los.

Dieses Bildungssystem produziert wie am Fließband Schulversagen

Wenn also heute bereits Lernende ab der Klasse 5 ihren Notendurchschnitt auf den Zeugnissen errechnen und darüber spekulieren, welchen Abiturdurchschnitt sie wohl erreichen werden, dann kann man nur sagen: Absurder geht es nicht! Da könnte man auch gleich das Orakel von Delphi befragen. Dieses Bildungssystem produziert wie am Fließband Schulversagen und eine Lehrerschaft, die unter dem ständigen Korrektur- und Bewertungsstress ächzend die Freude am Weitergeben von Wissen und Fähigkeiten verliert. Jede Bewertung ist fehleranfällig und subjektiv, sie spiegelt nie die Wirklichkeit des schulischen, beruflichen und gesellschaftlichen Lernens in ihrer Komplexität, liefert aber die von der Wirtschaft und einem Großteil der Elternschaft geforderte Vergleichbarkeit, die vorgeblich mehr „Gerechtigkeit“ schafft.

Noten sind aber keineswegs die DNA schulischer Bildung, also naturgegeben und unabänderlich. Sie sind im schulischen Kontext allenfalls ein notwendig erachtetes Hilfsmittel, das zwar anstrebt, den Leistungswillen zu steigern, vom Schüler aber oft als Strafe und Bewertung seiner Person missverstanden wird. Die DNA schulischen Lernens ist ein vertrauensvolles, dynamisches Miteinander von Lehrern und Schülern. Meine langjährige Erfahrung lehrte mich: Wo Lehren und Lernen keine Freude bereitet, ist zusätzlicher Druck kontraproduktiv. Margret Schmitz Pulheim

Positive Seiten von Lernen und Leistung betonen

Vielleicht sollten wir – anstatt quälenden Leistungs- und Notendruck zu betonen – wieder den positiven Seiten von Lernen und Leistung das Wort reden. Neben der Freude daran, die Welt zu entdecken, sich viele Fertigkeiten anzueignen und etwas zu leisten, gehört es auch zum schulischen Lernen, schwierige Phasen und Prüfungsängste durchzustehen, nicht aufzugeben und sich auch bei empfundener Unlust den geforderten Aufgaben zu stellen.

Diese Kompetenzen sind aber von größter Bedeutung – nicht nur in der Schule oder für die spätere Arbeitspraxis –, sondern gerade für die eigene Persönlichkeitsentwicklung und das Gestalten vieler Lebensbereiche. Das Erleben der eigenen Kräfte durch bestandene Klassenarbeiten, Klausuren oder die Gesellenprüfung festigt das Selbstbewusstsein; schlechte Noten belegen die Notwendigkeit der Wiederholung des Stoffes oder gründlicheren Lernens mit dem Ziel der Verbesserung.

Die traurige Tatsache, dass ein Viertel der deutschen Schülerschaft trotz der genannten Bemühungen die Mindeststandards im Lesen, Schreiben, Rechnen nicht erreicht, taugt nicht als Argument gegen Noten. Hier sind neben dem Lehrermangel vielmehr diverse Schulreformen – gerade im Primarbereich – einer kritischen Reflexion zu unterziehen.

Und nicht zuletzt: Wie wollen wir in unserer Gesellschaft wieder vermehrt kompetente und verlässliche Fachkräfte ausbilden, wenn wir das Erbringen von Leistung und deren Bewertung als Problem und das Durchhalten von Anforderungen als quälenden Prozess definieren? Diese Fehlansätze müssen wir revidieren, um allen Menschen die Möglichkeit zu geben, an einer funktionierenden Demokratie teilzunehmen und mitzuwirken, die darauf beruht, gesellschaftliche Fragen verstehen und beurteilen zu können.  Julia Lang Neunkirchen-Seelscheid

Nicht Schulnoten erzeugen Stress, sondern der Umgang mit ihnen

Dem Bild von Schule als „krankmachendes System“, das im Beitrag durch die Collage einer Schülerin, die Aussagen einer Lehrerin und verschiedener „Bildungsexperten“ gezeichnet wird, möchte ich meine Erfahrungen mit Schule heute entgegensetzen. Bei Tagen der „Offenen Tür“ und Informationsveranstaltungen zu weiterführenden Schulen erlebte ich lebendige und lernfreudige Schulgemeinschaften, repräsentiert von sehr engagierten, freundlichen, ja von ihrem Beruf begeisterten Lehrerinnen und Lehrern sowie Schülerinnen und Schülern, die Musik, Kunstwerke, Theater, außerschulische Projekte und Sportstätten ihrer Schule mit spürbarer Freude und Stolz zeigten – eine Atmosphäre, die alles andere als Zwang, Leistungsdruck, Angst oder Langeweile vermittelte.

Ebenso kann ich die Grundschulzeit meines Enkels als außerordentlich erfolgreich beim Erwerb von Basiskenntnissen und als eine fröhliche, stärkende und spannende Zeit beschreiben. Vielleicht stechen diese Schulen hervor, aber sie sind ein Beispiel dafür, dass das System Schule an sich weder „krankmachend“ noch „zermürbend“ ist.

Im Gespräch mit Eltern und Kindern in der Grundschule überwog das Plädoyer für Noten. Einerseits, weil Noten noch als Maßstab in Schule und Gesellschaft verankert sind. Andererseits, weil sie Eltern und Kindern einen klaren Anhaltspunkt für den Kenntnisstand bieten, da die langen, oft allgemein gehaltenen Aussagen aus meist vorgegebenen Textbausteinen oftmals weder verstanden werden, insbesondere von unsicher Deutsch sprechenden Eltern, noch eine genaue, individuelle Beschreibung der Fähigkeiten bieten.

Inwieweit Kinder Noten als „Stress“ erleben und dadurch in Konkurrenz zu ihren Mitschülern geraten, hängt maßgeblich davon ab, wie Lehrer und Eltern damit umgehen. Wenn sie Noten als sachliche Information und als Anreiz vermitteln und Konkurrenzsituationen vermeiden, werden die Kinder Noten als Selbsteinschätzung, Lob oder auch Ansporn zur Anstrengung erleben.

Die Tatsache, dass ein Viertel der Schüler und Schülerinnen keine Basiskenntnisse mehr erwerben, liegt nicht an veraltetem Lernstoff und Noten, sondern am Lehrermangel, dem Konzept des „selbstständigen Lernens“, bei dem die Lehrer nicht mehr erklären und „erziehen“ dürfen und anderen Reformen, wie Schreiben nach Gehör, sowie am Einfluss der Medien und zunehmender Missachtung des Lehrerberufs und des Schulsystems. Hieran müsste gearbeitet werden, es müsste investiert werden, um den Lehrerberuf wieder attraktiv zu machen! Marlis Kupsch Wachtberg


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