Das freieste Land EuropasSchweden und der Sonderweg – Wie sieht der Alltag aus?

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Tische in Cafés und Bars wurden so weit auseinandergestellt, wie es eben geht. Manchmal nur 20 Zentimeter.

  • Schweden geht unbeirrt in der Corona-Krise einen Sonderweg.
  • Fast alles bleibt erlaubt, die Regierung setzt auf das Verantwortungsbewusstsein seiner Bevölkerung. Die Todesrate bleibt aber hoch.
  • Wie sieht derzeit der Alltag in Schweden aus?

Stockholn – Es ist 7.20 Uhr in Stockholm am hübschen Midsommarkransen im Südwesten von Stockholm. Der nordische Frühling ist mit sechs Grad launisch und will sich schon seit Wochen nicht in Schwedens Hauptstadt einstellen. Die H&M-Modedesignerin Asa Westlund (47) sitzt mit ihrem Lebenspartner Erik Birath (44), einem Jazzklub-Betreiber, und den drei Kindern Odd (14), Ingrid (13) und Henning (9) beim Frühstück. Es gibt gesunden Haferbrei, frisch gepressten Orangensaft und viel Kaffee für die Erwachsenen.

Dann gehen alle getrennte Wege. Die Kinder wie immer in die Schule, Asa wie immer ins Büro, nur Erik setzt sich zu Hause ins Homeoffice. Schwedische Familien leben in der Corona-Krise viel freier als die Menschen im restlichen Europa. Dennoch leben die meisten Schweden derzeit äußerst verantwortungsbewusst. Sie sind froh darüber, dass ihre Gesellschaft nicht im Lockdown mit ausverkauftem Klopapier versunken ist, und wollen, dass es auch so bleibt.

So lebt Schweden mit dem Corona-Alltag

Doch wie sieht der Alltag in diesen Tagen dort aus? Seit Beginn der Krise ist in Schweden fast alles erlaubt, fast alles hat geöffnet: alle Geschäfte, Schulen bis einschließlich der 9. Klasse, Kindergärten, Büros, Bars, Restaurants, Fitnessstudios, Büchereien und sogar einige Kinos. Einschränkungen gibt es nur wenige: Lange Zeit galt eine Obergrenze von maximal 500 Menschen in der jeweiligen Einrichtung, erst ab dem 29. März wurde sie auf 50 begrenzt. Dies und ein Besuchsverbot in Altenheimen sind die einzigen Verbote. Und ab der 10. Klasse und an den Hochschulen wurde auf Fernunterricht umgestellt, weil ältere Kinder eher eigenverantwortlich lernen können.

Eine Abkehr von diesem Weg ist nicht in Sicht. Die schwedische Regierung hat die Bevölkerung hinter sich, sie befindet sich im Umfragehoch. Die WHO lobte den verantwortungsbewussten und freiwilligen Sonderweg kürzlich als „Zukunftsmodell” für andere Länder, die sich öffnen wollen.

Abstand auch ohne Mundschutz

„Die Kinder sind froh, dass sie ihre Freunde treffen können. Nach der Schule sind sie teilweise im Hort. Wir holen sie gegen 17.30 Uhr ab, manchmal kommen Freunde mit zum Spielen”, sagt Asa Westlund. Sie hat gerade viel zu tun. Trotz Corona muss die Chefdesignerin für eine Damensparte im Stockholmer Hauptquartier des weltweiten Kleiderkonzerns H&M die Frühlingskollektion für 2021 stemmen. „Anfänglich gab es einen Corona-Fall in der Schule der Kinder. Wir mussten zwei Tage zu Hause bleiben und Schulaufgaben mit allen dreien machen, da blieb kaum Zeit zum Arbeiten“, sagt Asa Westlund.

Zur Arbeit fährt sie mit der U-Bahn. Weil viele freiwillig im Home­office arbeiten, ist die „Tunnelbana” in Stockholm derzeit so leer, dass jeder Fahrgast eine Vierersitzgruppe für sich allein hat. Auch wenn kaum Mundschutz getragen wird, hält man deutlich Abstand, vor allem älteren Menschen gegenüber. Schweden und selbst die Hauptstadt Stockholm sind im Vergleich zu anderen Regionen in Europa viel dünner besiedelt.

Oft nur Alibi in Schweden

In den Kneipen dürfen Gäste seit rund zwei Wochen nur noch sitzen. Das Gedränge an der Theke fällt also weg. Allerdings sind das in den am Wochenende gut gefüllten Stockholmer Bars und Restaurants oft nicht mehr als Alibihandlungen. So wurden Tische in Cafés und Bars so weit auseinandergestellt, wie es eben geht. Manchmal nur 20 Zentimeter.

Asa Westlunds helles Großraumbüro ist geschmackvoll eingerichtet. Es gibt rund 80 Angestellte. „Als Chefin muss ich jeden Tag reinkommen, aber wir lassen alle, die können, von zu Hause arbeiten. So sind wir zumeist nicht mehr als 20 Personen im Büro täglich, und überall sind Schilder, die ans Händewaschen und daran erinnern, in die Armbeuge zu niesen und zu husten”, sagt Westlund. Ähnliches hört man von vielen Arbeitsplätzen im ganzen Land: Freiwilliges Homeoffice, wenn es geht, und sonst geht’s ins Büro, aber mit Abstand.

„Wir bemühen uns, die Empfehlungen einzuhalten“

Asa Westlunds unterschiedliche Arbeitsteams mit jeweils rund sieben Personen müssen aber auch in Konferenzräume zu Besprechungen. „Wir halten da schon etwas Abstand, aber die empfohlenen zwei Meter sind nicht wirklich immer drin”, sagt sie. „Wir bemühen uns aber, die Empfehlungen vom Gesundheitsamt einzuhalten, wo es nur geht. Ich glaube, nur vom Home­office aus hätten wir unser Arbeitspensum nicht geschafft”, sagt sie. Als Asa kürzlich allen 80 Mitarbeitern einen Vortrag halten musste, tat sie das aber über Zoom im Internet.

Asa Westlund und ihr Freund Erik halten sich strikt an die dringenden Quarantäneempfehlungen und isolieren sich, so gut es geht. „Die Kinder dürfen ihre Freunde einladen, die sehen sie eh jeden Tag in der Schule, aber wenn wir unsere Freunde treffen, dann im Freien, etwa im Innenhof, wo wir eine schöne Sitzgelegenheit haben, oder mit einer Flasche Wein im Park. Da muss man sich halt etwas wärmer anziehen”, sagt Westlund.

„Wir gehen zu niemandem nach Hause, ich gehe nur einkaufen, und da ist auch Abstand angesagt. Für Erik gilt das Gleiche. Er ist ein wenig zum menschenscheuen Einsiedler geworden im Homeoffice”, sagt Asa Westlund und lacht. „Er ist noch vorsichtiger als ich.” H&M hat Asa und alle anderen Mitarbeiter im Hauptquartier in der vergangenen Woche auf Corona getestet. „Ich hatte es leider noch nicht, keine Antikörper, das war etwas ernüchternd, ich war davon ausgegangen, dass ich schon krank war”, sagt sie.

Die Schweden glauben an den Sonderweg

Was sie vom auf Freiwilligkeit setzenden schwedischen Sonderweg hält? „Am Anfang haben wir schon überlegt, ob das gut oder schlecht ist ohne Verbote, aber anscheinend funktioniert es, wenn man den Zahlen des Gesundheitsamtes glaubt”, sagt Asa Westlund.

Lob für den schwedischen Sonderweg gibt es von der WHO: „Schwedens Art zu reagieren kann ein zukünftiges Modell dafür sein, wie man einer Pandemie begegnet”, sagte kürzlich WHO-Nothilfedirektor Michael Ryan. „Es herrscht die Auffassung, dass Schweden keine Kontrollmaßnahmen ergriffen und nur die Ausbreitung der Krankheit zugelassen hat. Nichts ist aber weiter von der Wahrheit entfernt”, betont er. Die Behörden hätten sich dabei aber auf ihr gutes Verhältnis zu den Bürgern und deren „Selbstregulierung” verlassen, so der Experte. „Wenn wir eine normalisierte Lage erreichen wollen, zurück zu einer Gesellschaft, die wir nicht verschließen müssen, glaube ich, dass Schweden ein Zukunftsmodell repräsentiert”, so Ryan.

Erfolg an zwei Fronten

Schweden ist derzeit an zwei Fronten erfolgreich. Zum einen ergeben Studien, dass Schweden viel schneller als andere Länder die angestrebte Herdenimmunität erreichen könnte. Wenn viele das Virus irgendwann in sich hatten und immun sind, kann es sich nicht mehr so schnell ausbreiten, so der Grundgedanke. Allein in Stockholm, wo mit Abstand die meisten Infizierten sind, sollen schon seit Anfang Mai bis zu 26 Prozent aller Bürger durch eine zurückliegende Corona-Erkrankung immun geworden sein.

Eine zweite Infektionswelle nach Lockerungen, wie etwa in Südkorea, das schnell sehr strikte Eindämmungsverbote erließ, werde es in Schweden nicht geben, sagte Staatsepidemiologe Anders Tegnell am Sonntag. Weil schon so viele das Virus in sich gehabt hätten und nun immun seien, würden auch die Kennziffern wie die Anzahl der Neuinfizierten und Schwerkranken in Intensivstationen derzeit zurückgehen, so Tegnell.

Gleichzeitig will Schweden, wie alle anderen Länder auch, vor allem eine Überlastung der Gesundheitsversorgung durch zu viele Kranke zur gleichen Zeit vermeiden. Dies ist gelungen. Die Zahl der Intensivstationspatienten mit Corona lag stets weit unter der Anzahl der oft leeren Behandlungsplätze. Ein eilig errichtetes Feldlazarett in Stockholm musste nie geöffnet werden.

Schwedens Achillesferse

„Wenn die Leute sagen, wir in Schweden machen ein Experiment mit unserem Sonderweg, würde ich antworten, dass es ein äußerst, äußerst kniffliges Experiment ist, die gesamte Bevölkerung eines Landes vier bis fünf Monate einzusperren”, verteidigt Gesundheitsbehördenchef Johan Carlson die Maßnahmen. Man müsse auch daran denken, dass sich die Erkrankungs- und Sterblichkeitsrate für Menschen in gesundheitsschädlicher Isolation und mit wirtschaftlichen Problemen deutlich erhöhten. Man müsse das Gesamtbild bei der Volksgesundheit im Auge behalten, so Carlson.

Obwohl die Zahl der Neuinfizierten, Intensivstationspatienten und Toten seit einiger Zeit zurückgeht, bleibt die relativ hohe Sterberate bei Corona-Kranken ein Streitpunkt in Schweden. Doch auch Länder mit strikten Verboten wie Frankreich und Spanien haben ähnliche Sterblichkeitswerte beim Blick auf den Gesamtverlauf der Pandemie, so das Gesundheitsamt.

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Die schwedische Achillesferse in der Corona-Krise liegt wohl im Schutz der Altenheime. Laut der Zeitung „DN” gab es in 541 schwedischen Altenheimen Corona-Fälle oft mit tödlichem Ausgang. Laut dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender SVT fehlt es an grundlegender Schutzausrüstung wie einfachem Mundschutz.

„Die Gesundheitsbehörde betreibt nicht die Altenpflege. Im Grunde geht es da um Dinge, die permanent funktionieren müssen, auch wenn es keine Pandemie gibt: etwa basale Hygieneregeln und Ähnliches”, so Wallensten vom Gesundheitsamt. Schließlich seien alte Menschen grundsätzlich gefährdeter. Schwer Demenzkranke sind etwa extrem anfällig für Infektionen. Der Schutz vor Infektionen hätte schon vor Corona besser sein müssen, verteidigt sich die Gesundheitsbehörde.

Die Kritik

Wie in anderen Ländern auch steht Schwedens Altenpflege nach Kürzungen und Privatisierungen seit Jahren in der Kritik. Die Zustände sind oft nicht schön. WHO-Nothilfechef Ryan hält es dennoch für falsch, Schwedens Grundstrategie mit der Anzahl der Toten in Altenheimen zu verbinden. Länder mit scharfen Verboten hätten ähnliche Probleme: „So wie viele andere Länder in Europa wurde auch Schweden von einer Ansammlung von Erkrankungen in der Altenpflege getroffen. Das ist tragisch, aber nicht einzigartig. Eine Reihe von Ländern haben das Gleiche erlebt. Das muss genau untersucht werden. Unsere Alten sterben in ganz Europa.”

Aber gibt es denn keine Kritik? Doch. Am Montag kritisierte Dan Eliasson, Chef des Krisenbereitschaftsdienstes MSB, dass viele vorbeugende Maßnahmen früher hätten ergriffen werden müssen. Schwedens Grundstrategie kritisiert er aber genauso wenig, wie es die dreifache Mutter Asa Westlund tut. „Ich finde es richtig, wie wir in Schweden das machen. Wenn es schlechter wird, können wir immer noch Verbote erlassen”, sagt Westlund. „Mit der Freiwilligkeit und dem Verantwortungsbewusstsein ist es natürlich so eine Sache, und das geht vielleicht nicht in allen Ländern gleich gut, aber ich habe großes Vertrauen in unsere Gesundheitsbehörde und die Regierung.”

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