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Hightech in EttelnWarum ein deutsches Dorf als beste Smart City weltweit gilt

Lesezeit 8 Minuten
Luftbild von Etteln, Kreis Paderborn, Vorreiter in der Digitalisierung auf dem Land.

Luftbild von Etteln, Kreis Paderborn, Vorreiter in der Digitalisierung auf dem Land.

In einem globalen Smart-City-Wettbewerb landete das beschauliche Etteln auf Platz 1 – vor Hongkong. 

Zwei Tage vor dem Treffen in Ostwestfalen-Lippe schickt der Ortsvorsteher per Mail einen entspannten „Gruß aus Chennai“, der sechstgrößten Stadt Indiens.

Es ist nur ein erstes Indiz dafür, dass in seiner Heimat auf der Paderborner Hochfläche womöglich einiges anders läuft als im deutschen Durchschnittsdorf. Etteln, 1750 Einwohner, Ortsteil der Gemeinde Borchen, Ausrichter des Kreisschützenfests 2004, wird seit Kurzem in Überschriften als „smartester Ort der Welt“ und in der ARD gar als „weltweit beste Smart-City“ gefeiert.

Nun ist Etteln keine Stadt, doch der Kern stimmt: Bei einem globalen Smart-City-Wettbewerb des größten technischen Berufsverbands der Welt (IEEE) gewann Etteln im Oktober den ersten Preis – vor Asiens Megametropole Hongkong. Seit der Preisvergabe in Thailand pilgern nun Bürgermeister, Ministerinnen, Digitalbeauftragte oder Studierende ins Altenautal, um sich diesen wundersamen und weltweit beachteten Fleck anzuschauen.

Denn für Deutschland, Republik der Faxgeräte und verstaubten Amtsstuben, ist diese Nachricht einigermaßen sensationell. Smart City steht für Vernetzung, intelligente Systeme, digitalen Fortschritt – und ausgerechnet dieses Dorf zwischen Streuobstwiesen und Windrädern soll der Welt vormachen, wie es geht?

Ein Großteil des Erfolgs hängt mit dem viel reisenden Ortsvorsteher zusammen. Ulrich Ahle, CEO eines europäischen IT-Projekts, bringt von überall her Ideen mit, um einige der drängendsten Probleme von Kommunen vor dem eigenen Gartenteich zu lösen: die öffentliche Anbindung, nachhaltige Energieversorgung, demografischer Wandel. Doch neben Ahle war es die Dorfgemeinschaft selbst, die mit viel Engagement zeigt, was digital möglich ist – auch auf dem platten Land, auch in Deutschland.

Etteln zog sich selbst aus der Krise

Aber das erzählen die Ettelner am besten selbst. Eine von ihnen ist Claudia Günther, 59, Pflegeberaterin, zwei Kinder, Haus auf einem kleinen Hügel. An ihrem Küchenfenster lehnt ein Schild: „Wer den Tag mit einem Lachen beginnt, hat schon gewonnen.“ Es passt zu ihrer fröhlichen Art, mit der sie Gäste und Journalisten durch das Wunderdorf führt, in dem schon ihre Eltern geboren wurden.

Günther erinnert sich noch an den Nullpunkt, als die Grundschule schließen sollte, weil es zu wenig Schüler gab, Häuser in Etteln leer standen. Der Gemeindebürgermeister pries damals vergeblich freie Bauplätze in dem Ortsteil an. Etteln galt als hinterwäldlerisch, obwohl es nur 15 Kilometer bis Paderborn sind.

Heute, etwas mehr als zehn Jahre später, spricht Günther von „Heimatstolz“. Der Einstieg ins Etteln 2.0 beginnt an ihrem Küchentisch. Am Handy scrollt sie durch die Dorf-App: Aufgebaut wie ein soziales Netzwerk, stehen hier Termine vom Garagenflohmarkt bis zum Abfallkalender, stellen Nachbarn Kleinanzeigen ein oder chatten in Vereinsgruppen. Dank ausgebautem 5G-Netz funktioniert sie im ganzen Ort.

Draußen öffnet Günther kurze Zeit später die Tür eines weißen E-Vans. Rund 100.000 Kilometer hat das „Ettcar“ seit 2020 abgespult, Bürger und Vereine können den 7-Sitzer kostenfrei buchen – natürlich per App. Zusätzlich gibt es eine digital vernetzte Mitfahrbank. Ihr Ziel im Umkreis wählen die Ettelner auf einem Nummerndisplay aus, es ploppt nicht nur auf der Anzeige über der Bank auf, sondern gleichzeitig in der Dorf-App. Wer hier auf eine Mitfahrgelegenheit wartet, kann sich nebenbei an einer Touchscreen-Stele durch Neuigkeiten wischen. Im Ort gibt es gleich drei solcher digitalen Pinnwände.

Günther lenkt den Wagen zum neuen Vereinsheim, zeigt die solarbetriebenen Straßenlampen, den Eier-Selbstbedienungsautomaten, der Metzger hat auch einen. Dazwischen die Kirche, der Bürgerpark, in dem sie das Sommerkino auf die Leinwand werfen. „In Etteln“, sagt Günther, „haben wir alles.“ Nur das E-Lastenrad, ebenfalls für alle buchbar, macht derzeit Mucken.

Zukunftsfelder, die vor allem Metropolen testen

Auf den ersten Blick wirkt das Dorf wie jedes andere: Höfe mit Kühen und Schweinen, Männergesangsverein, Landfrauenverband. Doch dazwischen gibt es überall Innovationen zu entdecken. Ein Altkleidercontainer, der anzeigt, wie voll er ist, im Fluss messen Sensoren die Pegelstände. Bei Einsätzen der Freiwilligen Feuerwehr fliegt eine Drohne vorweg, um ein erstes Lagebild zu schicken. Und die Weihnachtsbeleuchtung lässt sich auch smart an- und ausschalten.

Gegen Ende steuert Günther noch das grün angestrichene Häuschen an einer der Ausfallstraßen an, etwa so groß wie eine Garage und zwei Millionen Euro teuer. Jedes dritte Ettelner Dach schmücken Solarzellen. Das Dorf produziert 34-mal so viel Strom, wie es selbst verbraucht. Diese Ortsnetzstation mit Batteriespeicher nimmt sie auf, um Etteln intelligent zu versorgen. Die Bewohner profitieren von einem Sondertarif, 30 Prozent unter dem Strom-Grundpreis.

Und es stehen weitere Projekte an: Noch in diesem Jahr soll das autonome Fahren in Etteln erprobt werden, dazu entsteht eine Testpraxis für Telemedizin, ein neues Rechenzentrum zog jüngst in den Fuß eines Windrads ein. Claudia Günther sagt über all die digitalen Angebote, natürlich ginge es auch ohne sie, „aber es vereinfacht vieles.“

Digitalisierung stiftet Identifikation

Alles begann 2013 mit einer Dorfwerkstatt. Als niemand nach Etteln ziehen wollte, analysierten die Bürger mithilfe einer Fachkraft Stärken und Schwächen des Ortes und gaben sich einen neuen Dorfslogan. Vor allem aber fanden sie in den nächsten Jahren ein gemeinsames Leitbild. Ziel sei es, „ein digitales Leuchtturmprojekt mit Strahlkraft nach ganz Deutschland und darüber hinaus zu schaffen“, heißt es in der Ettelner Imagebroschüre.

Man kann das als Größenwahn abtun, aber auch als Wagemut auf einem Kontinent, der oft zu hören bekommt, er sei zu verzagt, zu wenig visionär. Das gilt erst recht für Deutschland, das im Digitalisierungsindex der EU im Mittelfeld und bei Glasfaseranschlüssen gar nur auf dem vorletzten Platz liegt. Gerade zwischen Stadt und Land gibt es ein großes Gefälle, viele Kommunen fühlen sich abgehängt. Um attraktiv zu werden, braucht es eine digitale Infrastruktur.

Dafür packen die Ettelner selbst an: Während der Pandemie verlegten sie mit Baggern, Raupenschlepper und Erdkanone eigenständig 30 Kilometer Glasfaserkabel, damit auch der letzte Hof Highspeed bekommt. Der Schützenverein hob das Fundament für die digitale Stele aus, der Sportverein installierte Kabel. 2013 gründete sich zudem Claudia Günthers Verein „Etteln-aktiv“, um die Grundschule zu retten. „Ettelner halten gut zusammen“, sagt Günther und lacht wieder. „Jeder hat seinen Wert und seine Funktion. Und nur mit allen zusammen läuft es. Es geht nicht nur mit ihm allein“, sagt sie und meint Ulrich Ahle, den Ortsvorsteher und Macher der Smart City Etteln.

Er, der Ortsvorsteher, empfängt in einem schmucklosen Raum im Bürgerhaus. Ahle, 62, Sakko, kein Schlips, ragt in Etteln nicht nur wegen seiner 1,98 Meter heraus. Ein weltweit vernetzter IT- und Daten-Profi, der seine Karriere bei Nixdorf in Paderborn begann und heute in Brüssel arbeitet. Einer mit 80-Stunden-Woche, der die Digitalisierung daheim in Etteln eine „Herzensangelegenheit“ und „Hobby“ nennt. Am Laptop klickt er sich durch eine Präsentation über Ettelns Weg zum Superdorf.

Ein virtuelles Etteln baut sich auf, mit Wasserläufen, Hügeln, Häusern

Ahle ist ebenso ein Experte darin, Fördertöpfe anzuzapfen und Mittel einzuwerben. Denn allein hätte Etteln oder die Gemeinde kaum eines der Projekte stemmen können. Mehrere Millionen sind von Land, Bund und EU ins Dorf geflossen. Dazu kommen Kooperationen mit Energie- und Telekommunikationsanbietern. „Wir können mittlerweile eine gute Story erzählen“, sagt Ahle.

Auf seinem Laptop öffnet er jenes Smart-City-Projekt, für das der Ort ausgezeichnet wurde: Ein virtuelles Etteln baut sich auf, mit Wasserläufen, Hügeln, Häusern. Per Drohne erstellte das Dorf einen digitalen Zwilling von sich, eine naturgetreue Kopie, auf die alle Bürger Zugriff haben. Sie können dort zum Beispiel aktuelle Wetterdaten abrufen, auch die Verkehrszahlen. Solche Modelle nutzen vor allem Großstädte, um etwa Bauprojekte zu simulieren. Doch auch Dörfern helfen Berechnungen zum Hochwasserschutz, wie sie Ahle am Laptop vorführt.

Gleichzeitig zeigt das Projekt, wo Ettelns digitale Mission an Grenzen stößt. Nicht jeder im Dorf versteht etwa, wozu es das alles brauche. Beim Bäcker winkt ein Rentner ab, er sei kein Computer-Freak. Im Gasthof sagt die Wirtin an der Theke: Früher hätte man Dorf-Angelegenheiten noch hier besprochen, und nicht alles per Chat. Dennoch: Ahles Kurs ist akzeptiert, er führt das Dorf seit 2014 an.

Gerade in ländlichen Räumen brauche es Treiber wie ihn, sagt Christine Wegner, die in der Gemeinde Borchen als Projektleiterin den Digitalkurs des Dorfes unterstützt. Sie soll sich etwa darum kümmern, dass auch die anderen Ortsteile vom Ettelner Tech-Fortschritt profitieren. Doch innerhalb der Verwaltung stoße sie dabei teils auf Vorbehalte und Job-Ängste.

Vielen Kommunen fehle es an der Kompetenz, sich überhaupt vorstellen zu können, wo Digitalisierung helfen könne, sagt auch Ulrich Ahle. Ein weiteres Problem ist die Mittelverteilung, Smart-City-Ansätze werden vor allem in Städten erprobt. „Bund und Länder fördern seit Jahren einzelne Leuchttürme und Pilotkommunen, aber viel zu wenig kommt in der Fläche an“, heißt es aus dem IT-Branchenverband Bitkom.

In Etteln ist das anders. Mittlerweile hat die Grundschule rund doppelt so viele Kinder wie 2012, Bauplätze sind rar geworden. Dennoch geht die Einwohnerzahl leicht zurück. Das liege auch am Mangel an Grundstücken, sagt Ahle, dazu lebten viele Ältere allein in großen Häusern. Dennoch sei das Ziel, das Dorf-Image zu verbessern, aufgegangen. „Man ist stolz, Ettelner zu sein.“

So wie Claudia Günther vom Verein „Etteln aktiv“. Im Februar postete sie in der Dorf-App einen Zeitungsausschnitt, es ging um die ARD-Quizshow „Wer weiß denn sowas“. Dort fragte Moderator Kai Pflaume, wofür Etteln im Kreis Paderborn bekannt sei: als Geburtsort von besonders vielen deutschen Olympioniken im Gehen, für den Denkmalschutz, oder als weltweit beste Smart City. Für den Eintrag bekam sie so viele Likes wie selten zuvor.