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Lagebild NRWSchießen Polizisten vermehrt? Oder werden sie häufiger angegriffen?

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Düsseldorf – Viktor G. feuerte wild um sich. An jenem Abend des 22. November 2020 schlugen die Projektile seiner beiden Schusswaffen in die Fassaden der Häuser in der Nachbarschaft ein. Fenster zersplitterten, Autos wurden beschädigt. Als die ersten Streifenwagen eintrafen, eröffnete der Stuckateur-Meister erneut das Feuer, ein Geschoss durchschlug die Hand eines 60 Jahre alten Polizeibeamten.

Ein Spezialeinsatzkommando (SEK) stellte den Sportschützen an einem Hauseingang. Erneut fielen Schüsse, als Viktor G. eine seiner Waffen hob. Offenbar hielt sich der Täter anschließend die Pistole an den Kopf und drückte ab, regungslos sackte er zusammen.

Witwe des Angreifers auf Schadenersatz verklagt

Inzwischen hat sich der verletzte Polizist in den vorzeitigen Ruhestand versetzen lassen. Die Handverletzung hinterließ bleibende Schäden, zugleich plagt ihn nach den Angaben seines Anwalts Christoph Arnold seither eine „posttraumatische Belastungsstörung.“ Inzwischen hat der Bonner Jurist die Witwe des Schützen auf 80.000 Euro Schadensersatz verklagt.

Neun versuchte Tötungsdelikte und einen vollendeten Mord registriert das Landeskriminalamt (LKA) NRW durch Attacken auf Polizisten seit dem vorvergangenen Jahr. Für 2021 zählt das neue LKA-Lagebild 18.140 Beamte als Opfer von Gewalttaten. Zwar sind die Strafverfahren in dem Bereich um gut sechs Prozentpunkte gesunken, allerdings stieg die Opfer-Rate verglichen mit 2020 trotz der zeitweiligen Corona-Lockdown-Phasen nochmals leicht an.

Hemmschwelle gegenüber Polizisten gesunken

„Ich habe den Eindruck, dass bei Straftätern seit der Pandemie nochmals die Hemmschwelle gesunken ist, die Qualität der Gewalt gegen Polizisten nimmt evident zu“, resümiert Anwalt Arnold, der überwiegend Ordnungshüter vertritt. Gleich 32 Mal, so der LKA-Report, wurden Beamte mit einer Schusswaffe bedroht, in acht Fällen fielen Schüsse. Außerdem zählten die Analysten 56 Messerattacken.

Die Gefahrenlage reißt auch in diesem Jahr nicht ab. Im Januar ging ein mutmaßlicher Räuber mit einem Messer auf Polizisten los, die ihn zwecks Gesundheitschecks in eine Klinik in Köln-Longerich begleitet hatten. Die Beamten wurden leicht verletzt. Der 52-jährige Täter konnte zunächst flüchten, wurde aber kurz darauf gestellt.

Quote bei gefährlicher Körperverletzung gestiegen

Exakt 7564 Angriffe listet das Lagebild „Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten“ auf. Gerade die Quote bei schwerer oder gefährlicher Körperverletzung stieg um fast einen Prozentpunkt auf 349 Taten. Das heißt: Fast jeden Tag werden Polizisten zwischen Rhein und Ruhr schwer verletzt. Gut 800 Ordnungshüter mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden, darunter 224 Beamtinnen.

Bei den Delikten steht Widerstand oder tätlicher Angriff gegen Vollstreckungsbeamte ganz oben im Ranking. Allzu häufig sind die Delinquenten betrunken oder stehen unter Drogeneinfluss. Oft knallt es am Wochenende auf den Amüsiermeilen in Düsseldorf, Köln oder anderswo. Am Aachener Weiher wurde in einer Septembernacht 2021 eine Streifenwagenbesatzung derart mit Flaschen bombardiert, dass sie einer hilflosen Frau nicht beistehen konnten. Mitten im Karnevalstrubel Ende Februar 2022 stürmte ein 37-jähriger Mann auf der Zülpicher Straße aus einer Gaststätte auf einen Polizisten zu und versuchte ihm mit einer abgebrochenen Flasche in den Hals zu stechen. Der Beamte konnte den Angriff im letzten Moment noch abblocken und kam mit leichten Blessuren davon.

Gewalt aus Querdenker-Szene

Im Vergleich zu 2020 sank die Zahl der Tatverdächtigen, die Polizisten angriffen, zwar um 564 auf 6749. Dabei trugen 42 mutmaßliche Täter Schusswaffen. Knapp 4800 Tatverdächtige verfügten über einen deutschen Pass, daneben wurden fast 2000 ausländische Beschuldigte registriert. Von einer Beruhigung der Lage kann man aber nicht sprechen. Denn: Mit der starken Zunahme der Corona-Demonstrationen und der Aufmärsche aus der Querdenker-Szene kletterte im vergangenen Jahr die Quote von Gewaltdelikten gegen die Vertreter der Staatsmacht nach oben. Gerade Protagonisten von Rechts- und Linksaußen fokussieren sich auf die Polizei als „Feindbild“. Dabei haben sich vor allem die Übergriffe durch Linksextremisten im vergangenen Jahr auf 59 Fälle verdreifacht. Aus dem rechten Spektrum erfolgten neun Attacken.

Besonders hart ging es bei Corona-Gegendemos als auch auf der Kundgebung gegen das neue Versammlungsgesetz Ende Juni 2021 in Düsseldorf zur Sache. Bei einer Gedenkveranstaltung an den Philosophen und kommunistischen Vordenker Friedrich Engels zwei Monate später in Wuppertal löste die Polizei wegen Verstößen gegen das Vermummungsverbot den Protestmarsch auf. In der Folge kam es zu Zusammenstößen, bei denen zwölf Demonstranten und vier Polizisten leicht verletzt wurden. 50 Straf- und Ordnungswidrigkeitsverfahren liefen. Laut LKA wertet die linksextremistische Szene „Repression als staatliches Werkzeug zur Unterdrückung revolutionärer Prozesse und damit als entscheidender Faktor zur Herrschaftssicherung“.

Polizei steht wegen tödlicher Schüsse in der Kritik

Auf der anderen Seite steht gerade in den vergangenen Wochen auch die Polizei in der Kritik. Die tödlichen Schüsse auf einen 16-jährigen senegalesischen Flüchtling in Dortmund durch einen Polizeikommissar, der Angaben aus dem Innenministerium zufolge eine Messerattacke auf einen Kollegen verhindern wollte, haben neue Ressentiments in Teilen der Öffentlichkeit geschürt. Zumal allein im August drei Menschen durch Polizeiprojektile starben. Die Rede ist von übertriebener Polizeigewalt, vom rassistischen Umgang mit Zuwanderern. Erneut tauchen Vorwürfe auf, dass manchem Beamten die Waffe zu locker im Halfter sitze.

Mit Zahlen belegen lassen sich diese Vorwürfe nicht. Laut dem Innenministerium sind seit 2017 23 Menschen durch Schüsse der Polizei gestorben. Demnach liegen die Zahlen jährlich zwischen drei und fünf Fällen. Häufig benutzten die Opfer Messer. Landesweit wurden 2021 gut 7000 Taten mit Stichwaffen aktenkundig.

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Wenn Beamte schießen, müssen sie in der Mehrzahl der Fälle gefährliche, verletzte oder kranke Tiere mit ihrer Dienstwaffe töten. Im vergangenen Jahr war dies 1.928 Mal der Fall.

Binnen fünf Jahren bis 2021 hat die Polizei in 87 Fällen auf Menschen gefeuert. Dieses letzte Mittel ist nur dann erlaubt, um Leib und Leben zu schützen. So schoss eine Polizistin in Bergisch-Gladbach einen 29-jährigen Ruhestörer nieder und verletzte ihn lebensgefährlich, als dieser mit Messern auf die Beamtin zuging.

Vor vier Tagen erst machte eine SEK-Einheit einen 38 Jahre alten Krefelder mit einem Schuss ins Bein kampfunfähig. Zunächst hatte der Mann eine Nachbarin und ihr Kind mit dem Tode bedroht. Als die Beamten eintrafen, war er mit dem Messer auf die Einsatzkräfte zugestürmt. Zuvor hatte er gebrüllt: „Entweder ihr sterbt oder ich sterbe."

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