„Wird sich nicht wiederholen“S-Bahn-Zentrale ringt nach Chaos mit vielen Problemen

Lesezeit 7 Minuten
Neuer Inhalt (6)

Nach den Ausfällen bei der S-Bahn am vergangenen Wochenende verlängert die Bahn ihren Notfahrplan auf einigen Linien bis zum 18. September.

Duisburg – Eins ist Helmut Epskamp an diesem vermaledeiten Donnerstag sofort klar. Damit wirst du dir keine Freunde machen. Doch der Boss aller S-Bahnlinien, die durch Nordrhein-Westfalen fahren, sieht keinen Ausweg mehr, als ihn in der Leitstelle der DB Regio zwei weitere Krankmeldungen erreichen.

An den zahllosen Bildschirmen in dem fensterlosen Großraumbüro in der Duisburger Hansastraße, wo pro Schicht zwölf Disponenten für einen reibungslosen S-Bahn-Verkehr sorgen müssen, schnellt mit dieser Nachricht die Ausfallquote durch Corona und Urlaub am Nachmittag des 21. Juli auf 50 Prozent. Die Nachtschicht lässt sich nicht mehr besetzen. Die Fluglotsen der Schiene können einen sicheren S-Bahnbetrieb nicht garantieren.

Epskamp (57) trifft die wohl folgenschwerste Entscheidung seines mehr als 30-jährigen Eisenbahner-Daseins. Um 17.18 Uhr verschickt die Bahn die Mitteilung, dass sie den S-Bahn-Betrieb bis einschließlich Sonntag in weiten Teilen von NRW einstellen muss. An einem Wochenende, mitten in den Sommerferien, bei strahlendem Sonnenschein und Zehntausenden, die dank des 9-Euro-Tickets die Bahn gerade für sich entdeckt haben.

Böschungsbrand, Störung im Stellwerk

Eine Woche später. Wir stehen mit dem S-Bahn-Boss in der Duisburger Betriebszentrale und bekommen sofort hautnah mit, was die S-Bahnlotsen an ihren zwölf Arbeitsplätzen zu leisten haben.

Es ist 13.30 Uhr, zwischen dem Düsseldorfer Hauptbahnhof und Derendorf brennt die Böschung. Nichts geht mehr. Stillstand im Fernverkehr, bei den Regionalzügen und der S-Bahn. Zusätzlich gibt es eine Störung in einem Stellwerk in Essen. Das Krisenmanagement läuft mal wieder auf Hochtouren.

Das könnte Sie auch interessieren:

Epskamp ist die Ruhe selbst. Solche Situationen sind Alltag und werden schnell abgearbeitet, wenn genügend Personal zur Verfügung steht. „Das betrifft bei uns die S 6 und die S 1. Die S 1 fährt von Solingen durch ganz NRW. Jetzt müssen wir hier schnellstmöglich planen, damit die Reisenden-Kette nicht abreißt. Wir müssen klären, ob wir die S1 beispielsweise nur noch bis zum Düsseldorfer Hauptbahnhof fahren können und sie dann wieder in die Gegenrichtung zurück fährt. Was passiert auf der anderen Seite der Sperrung. Sind dort genug Züge, um einen Pendelverkehr einzurichten? Wie weit können wir an die Sperrung heran fahren? Und wie schließen wir die Lücke in der Reisekette mit Ersatzverkehren“, sagt er. „Es muss Personal umgeplant werden. Auch die Fahrzeuge sind nicht alle dort, wo wir sie in dem Moment brauchen. Und vielleicht haben wir Reisende in Zügen, die auf der freien Strecke stehen. Was machen wir mit denen?“

Entscheidungen müssen schnell getroffen werden

All diese Entscheidungen müssen möglichst schnell getroffen werden. „Wenn uns das in 20 Minuten gelingt, haben wir gut gearbeitet“, sagt Epskamp. Wie lange Feuerwehreinsatz dauern wird, kann in dieser Minute keiner sagen.

In vier Kreiseln, so nennt die Bahn das Herzstück der Duisburger Leitstelle, arbeiten die Troubleshooter der Schiene. „Das hier ist die Königsklasse“, sagt der S-Bahn-Chef.

In Kreisel 1 koordiniert die DB Netz AG die Trassen, die für den gesamten Zugverkehr gerade zur Verfügung steht. In den Kreiseln 2 und 3 werden der Fernverkehr, der Regionalverkehr einschließlich der S-Bahn gemanagt. Für die Regionalzüge gibt es zur Entlastung noch zwei Außenstellen in Köln und Münster.

Kreisel 4 koordiniert die Strecke zwischen Köln und Dortmund, die zu den am meisten befahrenen in Deutschland gehört und auf der es wegen des Ausbaus für den Rhein-Ruhr-Express noch über Jahre unzählige Baustellen geben wird. Weil jede kleinste Verspätung im Herzen von Nordrhein-Westfalen deutschlandweite Folgen hat, arbeiten Vertreter aller Verkehrsunternehmen und aller DB-Gesellschaften gemeinsam daran, die Lage im Griff zu halten.

Fluglotsen der Schiene sind hochspezialisiert

Wer in einem dieser Kreisel arbeiten will, muss mindestens zwei Jahre Erfahrung im Fahrdienst gesammelt haben und anschließend sechs Monate Ausbildung dranhängen, um zum Beispiel an einem der zwölf S-Bahn-Arbeitsplätze eingesetzt werden zu können. Die sind auf verschiedene Linien verteilt, weil es genauer Orts- und Streckenkenntnisse bedarf, um im Notfall schnell reagieren zu können. Der hohe Grad der Spezialisierung ist auch der Grund für den Personalengpass durch den extremen Krankenstand.

„Wenn man nicht mehr genug Mitarbeiter hat, die eingreifen können, und ein Zug steht auf der Strecke, kann es passieren, dass die Menschen die Türen öffnen, raus auf die Schienen treten und sich in Lebensgefahr bringen“, sagt Epskamp. „Das wäre so, als würde man einen Nichtschwimmer als Bademeister an den Beckenrand setzen.“

3200 Nahverkehrszüge fahren täglich durch NRW

3200 Regionalzüge und S-Bahnen fahren in Spitzenzeiten täglich durch NRW, rund die Hälfte davon wird von Duisburg aus gesteuert. 3500 Lokführer sind dafür im Einsatz.

Der Böschungsbrand in Derendorf erweist sich schnell als kleinere Störung.

Ob sich ein Totalausfall wie am vergangenen Wochenende wiederholen könne? S-Bahn-Boss Epskamp zögert einen Moment. „Das war schon das Krasseste, was wir erlebt haben. Das ist nicht spurlos an uns vorbeigegangen“, sagt er. „Jeder, der hier arbeitet, möchte die Reisenden möglichst störungsfrei von A nach B bringen. Das hat uns richtig weh getan. Wir haben einen anderen Anspruch an unsere Arbeit.“

Pro Schicht in der Leitzentrale ein Arbeitsplatz gespart

Die Entscheidung der DB Regio, den Verkehr auf einzelnen Linien bis zum 18. September einzustellen oder auszudünnen, könne er nur begrüßen. „Wir können pro Schicht dadurch einen Arbeitsplatz einsparen“, sagt Epskamp. „Und wir kriegen dadurch mehr Verlässlichkeit ins System. Die Reisenden wissen rechtzeitig Bescheid. Nach meiner Einschätzung wird sich das vergangene Wochenende nicht wiederholen.“ In normalen Zeiten reiche das Stammpersonal von 61 Mitarbeitenden völlig aus.

Dennoch hat die Bahn entschieden, in Duisburg, Köln und Münster jeweils einen Stamm von zehn Springern aufzubauen, die weiterhin ihre alten Jobs als Lokführer, Kundenbetreuer oder Rangierer wahrnehmen, aber einen Teil ihrer Arbeitszeit in der Leitstelle verbringen, um für den Notfall fit zu sein. Und sie wird in Nordrhein-Westfalen im Herbst einen neuen Ausbildungsgang mit dem Schwerpunkt Disposition einrichten, wo Berufsanfänger in drei Jahren diesen Job von der Pike auf lernen können.

Diese Einschränkungen gelten in NRW bis 18. September

Auf der Linie RB 32 (Duisburg – Oberhausen – Gelsenkirchen – Herne Dortmund) verkehren montags bis freitags pro Tag acht Züge in jede Richtung. Sie werden im Auftrag von DB Regio von der Centralbahn gefahren. Am Wochenende fallen die Züge der RB 32 leider aus. Als Ersatz können die Fahrgäste die auf Teilstrecken parallel fahrenden Züge der S 2 nutzen. Zudem verkehren Busse insbesondere in Tagesrandlagen und am Wochenende.

An den Wochenenden entfallen die Züge der Linie RB 40 zwischen Essen über Witten nach Hagen ab 30. Juli. Auf dem Streckenabschnitt können Reisende u.a. auf die Linie RE 16 ausweichen. Zwischen Essen und Bochum sowie Witten und Hagen verkehren zahlreiche weitere Nahverkehrslinien.

Für die weiter entfallende Linie RE 49 von Wesel über Oberhausen nach Wuppertal stehen weiter die Linien RE 5 und RE 19 bzw. die S 3 und die S 9 alternativ zur Verfügung.

Die Linie S 6 verkehrt zwischen Düsseldorf Hbf und Langenfeld regulär, von Langenfeld bis Köln-Mülheim verkehren weiter Ersatzbusse und ab Köln-Mülheim bis Köln-Worringen steht die Linie S 11 zur Verfügung. Im Raum Köln fällt die Linie S 6 bis zum 18.9.2022 aus.

Auf der RE 16/RB 91 entfällt weiter der Zubringer zwischen Letmathe und Iserlohn. DB Regio hat einen Busverkehr auf dem Streckenabschnitt eingerichtet.

Auf der RB 46 von Gelsenkirchen über Wanne-Eickel nach Bochum fährt DB Regio NRW montags bis freitags weiter im Stundentakt. An Wochenenden wird ein Schienenersatzverkehr angeboten.

Auf der Linie RE 42 zwischen Münster und Essen entfällt der Zwischentakt. Fahrgäste können auf die parallel verlaufenden RE 2 ausweichen, die bei ausgewählten Verbindungen morgens und abends auch Unterwegshalte der RE42 zwischen Münster und Essen anfährt.

Ab dem 15. August entfällt die Line RE 8. Es verkehren die beiden Fahrten Mo-Fr um 6.01 Uhr ab Kaldenkirchen nach Köln Messe-Deutz und von Köln Messe-Deutz nach Kaldenkirchen um 16.26 Uhr. Auf dem gesamten Streckenverlauf verkehren parallel verlaufende Linien, u.a. die Linie RB 27.

KStA abonnieren