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Social DistancingCorona schenkt uns Nähe und Geborgenheit

5 min

Ein Paar in der chinesischen Stadt Wuhan

  1. Die Devise in der Corona-Krise lautet: Abstand halten.
  2. Für viele Menschen bedeutet das Einsamkeit und Abschottung.
  3. Wie wichtig uns Nähe und Geborgenheit sind, zeigt die Krise umso deutlicher. Eine Analyse von Psychiater Karsten Wolf.

Ausgangssperren, Kontaktbeschränkungen und social distancing sollen uns Nähe und Geborgenheit bringen? Ist das nicht ein offensichtlicher Widerspruch? Ja, das ist es und ist es auch nicht.Zu den Distanzierungs- und Kontrollmaßnahmen: Die wirksamsten rationalen Maßnahmen zur Verlangsamung der Pandemiedynamik sind allesamt Distanzierungsmaßnahmen: Individuen sollen sich nicht mehr in sozialen Gruppen zusammenfinden, sollen keinen Vereinssport mehr treiben, sollen die Gemeinschaftserlebnisse auf Großveranstaltungen in Kultur und Sport nicht mehr genießen dürfen. Individuen sollen mindestens 1,50 Meter Abstand zueinander halten, sollen sich nicht mehr die Hand geben oder sich gar umarmen, sollen Masken tragen und sich im äußersten Fall womöglich noch mit Latexhandschuhen bewaffnen.

Bizarr wirkende Bilder aus Asien verbreiten sich über das Netz: Familien, in denen die Kinder mit Ganzkörperschutzkleidung und Plastikballons um den Kopf herum auf Flughäfen herumirren. Ältere Menschen werden von Kindern und Jugendlichen ferngehalten und im schlimmsten Fall muss man ohne die Geborgenheit körperlich naher Angehöriger sterben. Alle Maßnahmen sind zudem getrieben von einem Drang nach Kontrolle, Planbarkeit und Berechenbarkeit unseres Lebens (und unseres Sterbens).

Privatdozent Kasten Wolf

All diese Distanzierungs- und Kontrollmaßnahmen könnten am Ende aber auch etwas Gutes bewirken: Uns könnte bewusster werden, wie elementar sowohl Nähe, Bindung, Gefühle, Geborgenheit und Körperlichkeit in menschlicher Gemeinschaft, als auch Unmittelbarkeit, Spontaneität und Nicht-Rationalität im (Er-)Lebensfluss für ein seelisch gesundes und vielleicht glückliches Leben sind. Wenn uns dies durch die Coronakrise bewusster werden könnte, dann würde sich relativ rasch ein Wandel in unserem Denken und (Er-)Leben vollziehen, der sich zwar wohl auch ohne Corona vollzöge, aber vermutlich erst sehr viel später gewahr werden könnte: Der Wandel von Neuzeitlicher „Hypertropher Hermeneutik“ (also einer zuletzt fast Ausschließlichkeit von Rationalität und Interpretations-/Sinnkultur im abendländisch geprägten Denken) hin zu einem gesunden und ausgewogenen Oszillieren zwischen Sinnkultur einerseits und Präsenzkultur andererseits.

Der renommierte Stanford-Professor Hans-Ulrich Gumbrecht hat diesen unabdingbaren und unaufhaltsamen Wandel im abendländisch-wissenschaftlich geprägten Denken in seiner „Präsenztheorie“ ausformuliert und schlüssig historisch begründet. Sein bahnbrechendes Werk „Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz“ aus dem Jahre 2004 ist eines der Auflagenstärksten Bücher der Stanford University Press und mittlerweile in neun Sprachen übersetzt. In Coronazeiten erfährt sowohl dieses Werk als auch sein Werk „Lob des Sports“ (ein Plädoyer für Sport und sportliche Großveranstaltungen) aus dem Jahre 2016 unerwartete Aktualität. Noch in diesem Jahr erscheint ein weiteres Buch von Hans Ulrich Gumbrecht, ein Lob auf die „stadium crowds“, das angesichts aktueller leerer Stadien auch an einer Analyse der Coronafolgen nicht vorbeikommen wird.

Eine Sehnsucht nach Nähe, Bindung und Körperlichkeit

Präsenztheorie: Gumbrecht lehrt uns, dass das menschliche Denken einem beständigen Wandel unterworfen ist: Während im christlichen Mittelalter Geist und Materie noch nicht als getrennt voneinander gedacht und wahrgenommen wurden und sich in der Renaissance ein zunehmend exzentrisches Verhältnis des Menschen zur Welt vollzog, führte der Cartesianismus zu einem folgenreichen Bruch im abendländischen Denken, durch den sich eine Trennung von denkendem Ich und materiellem Sonstigen verfestigte und als Leib-Seele-Problem unser heutiges Denken und Wahrnehmen zutiefst geprägt hat. Eine weitere Verschärfung dieser Entwicklung löste die Hermeneutik aus: Die zunehmende Durchdringung unseres Denkens durch die Hermeneutik, also durch Interpretation, Bedeutung und Sinnzuschreibung führte zu einer zunehmenden Überspitzung und Überbedeutung von Sinnkultur und der immanenten Überzeugung, der Mensch könne prinzipiell alles interpretieren, verstehen und damit letztlich irgendwann auch alles kontrollieren und planbar machen, heißt: es führte zu einer „Hypertrophen Hermeneutik“.

Diese Hypertrophe Hermeneutik hat in den letzten Jahrzehnten als zwangsläufige Gegenbewegung eine zunehmende Sehnsucht nach Präsenzerleben hervorgebracht, also eine Sehnsucht nach Nähe, Bindung, Körperlichkeit, Unmittelbarkeit und Unberechenbarkeit gegen jede Rationalität. Nach Gumbrecht wird sich in Zukunft allerdings keinesfalls ein vollständiger Wandel hin zu einer Ausschließlichkeit von Präsenzerleben vollziehen, die von Naivität und Romantizismus geprägt wäre und sich bereits vielfältig in esoterischen Kreisen manifestiert hat. Nach Gumbrecht sollte (und wird sich ganz zwangsläufig) das Denken weg von einer überwiegend hypertrophen Hermeneutik hin zu einem gesunden und ausbalancierten Oszillieren zwischen Sinnkultur (Hermeneutik) einerseits und Präsenzkultur (Körperlichkeit, Nahbarkeit, Unmittelbarkeit und Unberechenbarkeit) andererseits entwickeln.

Gequält von Grübeln und Gedankenkreisen

Präsenz und Seelische Gesundheit: Eben dieser Wandel hin zu einer gesunden Zunahme an Präsenz (und ihrer Bedeutung für unsere Lebensgestaltung) hat auch Einfluss auf die seelische Gesundheit, wissen wir doch, dass insbesondere Depressive und Angsterkrankte Menschen an einem Mangel an Präsenzerleben und damit einer verschärften hypertrophen Hermeneutik leiden. Diese Patienten sind häufig gequält von Grübeln und Gedankenkreisen, von einem Defizit an Bindungsgefühlen, Körpergefühlen und Gefühlserleben (allenfalls gepeinigt von Ängsten) und schließlich irgendwann gequält von Isolierung, Einsamkeit und dem Gefühl des Abgetrenntseins von einem lebenswerten Leben und Erleben in Bindung und Gemeinschaft.

Aus dieser Erkenntnis heraus lassen sich therapeutische Ansätze entwickeln bzw. lassen sich bereits vorhandene Therapieaspekte (z.B. aus Körperpsychotherapien, Sporttherapien, Naturtherapien u.v.m. heraus) stringenter fokussieren, die sich in einer „Präsenztherapie“ (Wolf 2018) beschreiben, erfassen und mit Leben erfüllen lassen.

Die Coronakrise und die (rein rational nachvollziehbar) verordneten Distanzierungs- und Kontrollmaßnahmen sind für seelisch fragile Menschen besonders belastend und auch gefährlich, vermögen sie doch sowohl Ängste und Depressionen als auch das Krankheitsimmanente leidvolle Erleben von sozialer und körperlicher Vereinzelung und Isolation zu verstärken. Gutgemeinte rationale Erklärungen vermögen solche Ängste zwar vorübergehend zu mildern, pure menschliche Nähe und Zuwendung wären aber deutlich hilfreicher und wirksamer. Insbesondere in psychiatrisch-psychotherapeutischen Kliniken sind die Mitarbeiter jetzt besonders gefordert, diesen Spagat zwischen verordnetem Kontaktverbot einerseits und der heilenden Kraft menschlicher Nähe andererseits gelingen zu lassen.

Der Wunsch nach Nähe könnte anhalten

Die Coronakrise lässt aber auch uns (vermeintlich gesunde) Menschen die besondere Bedeutung von Körperlichkeit, Gemeinschaft und Unmittelbarkeit neu gewahr werden, der Wunsch und die Sehnsucht nach „social closeness“ wird wohl mit zunehmender Dauer der Corona-Distanzierungsmaßnahmen bewusster erlebbar werden und könnte auch die Zeit nach Corona merklich und nachhaltig prägen.

Auf diese Art und Weise könnte die Corona-Krise und das behördlich verordnete social distancing dazu führen, dass das Präsenzerleben (Körperlichkeit, Nahbarkeit, Unmittelbarkeit) am Ende schneller als gedacht an Bedeutung gewinnt und wir rückblickend behaupten könnten:

Corona hat uns Nähe und Geborgenheit geschenkt.